Wie der Wettbewerb die Bahn beschädigt
Gefährliche Pläne der Ampel-Koalition
Ein Beitrag von Dr. Bernhard Knierim
Auch wenn noch fleißig verhandelt wird und der Koalitionsvertrag noch aussteht, ist schon durchgesickert, was die voraussichtliche Ampel-Koalition mit der Bahn vorhat: Die bisherige Deutsche Bahn AG soll zerschlagen werden – in mindestens eine staatliche Infrastrukturgesellschaft und mehrere Betriebsgesellschaften. [1] Dass die Grünen und die FDP das planen, hatten sie schon lange vor der Wahl deutlich gemacht – auch wenn die Grünen das in ihrem Wahlprogramm ausgespart hatten. Ihnen ist wohl bewusst, dass ihre eigene Basis und viele Wählerinnen und Wähler eine Zerschlagung der Bahn nicht befürworten. Die grünen Verkehrspolitiker glauben jedoch weiterhin an die angeblich segensreiche Wirkung des Wettbewerbs im Schienenverkehr – was sich mit den Ideen der FDP für eine Vergabe von Bahnstrecken in Auktionen deckt. Die SPD ist hingegen bislang gegen eine solche Zerschlagung der Deutschen Bahn AG (DB AG). Laut Presseberichten soll sie von den kleinen Partnern nun für diese Pläne gewonnen werden, indem die bisherige Güterverkehrschefin Sigrid Nikutta zur neuen Bahnchefin befördert werden soll. Ob das genügt und die SPD damit ihre bisherige Linie verlässt, bleibt abzuwarten.
Dabei ist ein Gesichtspunkt zumindest der grünen Pläne durchaus nachvollziehbar: Das Schienennetz soll keine Bilanzgewinne mehr erzielen. Das ist eine sinnvolle Forderung, die auch Bahn für Alle schon immer teilt. Schließlich ist das dafür zuständige Tochterunternehmen DB Netz AG inzwischen der mit Abstand größte Gewinnbringer des DB-Konzerns und steht so immer im gefährlichen Spannungsfeld zwischen dem Aufschieben teurer Instandhaltungsmaßnahmen und den staatlichen Zuschüssen zum Unterhalt des Netzes. Das ist ein wesentlicher Grund für den schlechten Zustand des Netzes und damit für viele Verspätungen im täglichen Betrieb. Um das schnellstmöglich zu beenden, könnte man die Gewinnabführungsverträge der Infrastruktursparten mit dem DB-Mutterkonzern kündigen. Das Konzept der Grünen beinhaltet stattdessen aber die Herauslösung des Schienennetzes aus dem Konzern. Der Bahnbetrieb soll hingegen zukünftig von vielen Bahngesellschaften im Wettbewerb durchgeführt werden. Doch eine solche Trennung hätte eine Reihe negativer Auswirkungen auf den Bahnverkehr. Und der mit dieser Trennung letztlich beabsichtigte Wettbewerb verschiedener Eisenbahnverkehrsunternehmen auf dem Schienennetz bringt weitere Probleme mit sich, weil er zu einem scharfen Konkurrenzdruck zwischen den Unternehmen führt. Um die Konsequenzen und die Alternativen zu dieser Orientierung auf Trennung und Wettbewerb soll es in nachfolgend gehen.
Schauen wir zuerst auf die grundsätzlichen Probleme der vorgeschlagenen Trennung von Netz und Betrieb. Viele der großen öffentlichen Bahnunternehmen verweisen immer wieder darauf, wie wichtig stattdessen der integrierte Betrieb von Netz und Zügen sei – unter anderem die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die immerhin den europaweit dichtesten Zugverkehr mit einer dennoch hervorragenden Qualität auf ihrem Netz realisieren. Nun mögen Wettbewerbsbefürworter einwenden, dass dies rein aus dem Eigeninteresse der großen Staatsbahnen argumentiert sei, die eben nicht gern zerschlagen und entmachtet werden wollen. Tatsächlich gibt es aber eine Reihe von Argumenten, die auch unabhängig davon gegen die Trennung sprechen. Die Interessen eines reinen Netzbetreibers und eines reinen Verkehrsunternehmens sind unterschiedlich – und entsprechend optimieren beide ihre Kosten auf jeweils ihre Weise, die oft den Interessen der anderen Seite zuwiderläuft und negative Auswirkungen auf das Gesamtsystem Bahn hat.
Anschaulich wird das bei der Frage zusätzlicher Zugverbindungen. Sind Netz und Betrieb getrennt, so sind für den Zugbetreiber die Trassengebühren, die er für die Nutzung des Netzes zahlt, fixe Unkosten, die er an die Netzgesellschaft entrichtet. Sind sie – zuzüglich der weiteren Kosten für Zug, Energie, Personal und so weiter – höher als die erwarteten Einnahmen, so wird er keinen zusätzlichen Zug fahren lassen oder gar vorhandene Zugverbindungen streichen. Mit dieser Rechnung hat beispielsweise die DB AG im Jahr 2016 ihre Nachtzüge abgeschafft, die seitdem eklatant im europaweiten Fernverkehr fehlen. In der Rechnung der DB waren die Trassengebühren, die die Nachtzugsparte an die Netzsparte zahlt und die rund ein Drittel der Kosten eines Zuges ausmachen, unveränderliche Unkosten. [2] Ein strikt gemeinwohlorientiertes, integriertes Bahnunternehmen könnte hingegen eine ganz andere Betrachtung durchführen: Der Großteil der Unkosten für das Netz sind als Fixkosten nicht zu verändern, und ein zusätzlicher Zug verursacht nur überschaubare zusätzliche variable Kosten (unter anderem für den Verschleiß des Netzes und den Aufwand im Stellwerk – die sogenannten variablen Kosten). So kann jeder zusätzliche Zug, der auf dem Netz fährt, zur Deckung der allgemeinen Unkosten beitragen. Die heutige DB AG agiert in diesem Sinne übrigens meist nicht als integriertes Unternehmen, da sie die verschiedenen Bereiche des Konzerns zumindest nach außen hin rechnerisch trennt.
Oft sind für einen dichteren oder zuverlässigeren Betrieb der Züge Maßnahmen am Netz notwendig, beispielsweise der Bau von Ausweichgleisen, Überleitstellen oder kürzere Abstände zwischen den Signalen. Das Netz-Unternehmen hat aber – wenn es nicht wesentlich höhere Einnahmen durch die zusätzlichen Züge erzielt – erst einmal kein Interesse an diesen Maßnahmen, die selbstverständlich Geld kosten. Auch hier kann wiederum nur ein integriertes Unternehmen die Gesamtrechnung aufmachen und die Investitionskosten bei der Infrastruktur mit den Vorteilen im Betrieb verknüpfen. Das gilt besonders für viele der in den nächsten Jahren notwendigen Innovationen im Bahnbetrieb, etwa die Umstellung des Zugsicherungssystems auf das europäische System ETCS [3], einen teil-automatischen Zugbetrieb oder die Ablösung von Dieseltriebwagen durch kombinierte Oberleitungs-/Akku-Triebwagen, für die an bestimmten Punkten zusätzliche Oberleitungsabschnitte gebaut oder Anpassungen an bestehenden Oberleitungen vorgenommen werden müssen. [4]
Ähnlich sieht es beim Baustellenmanagement aus – schon heute ein großer Streitpunkt zwischen den Verkehrsunternehmen auf der Schiene und der DB Netz AG als Infrastrukturunternehmen: Für letztere ist es am günstigsten, die Strecke zeitweise ganz zu sperren, um die Baumaßnahmen ohne Beeinträchtigungen und aufwändige Sicherungsmaßnahmen relativ schnell durchführen zu können – was deswegen auch zunehmend häufiger der Fall ist. Das „kapazitätsschonende“ Bauen, bei dem zumindest der Großteil des Verkehrs weiter abgewickelt werden kann, ist hingegen viel komplizierter, weil nur einzelne Gleise gesperrt werden können und teilweise sogar temporäre Weichen oder Signale eingebaut werden müssen, um den Verkehr dennoch zu ermöglichen, und die Baumaßnahmen zeitlich eingeschränkt werden müssen. Auch hier sind die Interessen des Netzbetreibers und der Verkehrsunternehmen gegensätzlich.
Einige der Interessengegensätze lassen sich möglicherweise auf Umwegen auflösen, aber es entstehen dabei immer wieder neue Schwierigkeiten – eben weil die Trennung selbst das eigentliche Problem ist. Das zeigt sich an dem komplexen Eisenbahnregulierungsgesetz (ERegG), das im „Eisenbahnmarkt“ für einen Wettbewerb zwischen den Unternehmen sorgen soll und ständig weiter angepasst werden muss, um die diversen Probleme und Interessenkonflikte zu lösen. Und es ist durchaus bezeichnend, dass die Trennung immer wieder in einzelnen Bereichen rückgängig gemacht wird, um Problemen im Bahnbetrieb zu begegnen: Beim DB-Projekt „PlanStart“ für eine Verbesserung der Pünktlichkeit im Fernverkehr wurden beispielsweise seit 2019 wieder Bahnhofsaufsichten eingeführt, die zuvor im Zuge der konzerninternen Trennung zwischen Betrieb (DB Fernverkehr) und Netz (DB Station & Service) abgeschafft worden waren.
Abgesehen von den beschriebenen Nachteilen der Trennung gibt es aber auch erhebliche Probleme mit dem Wettbewerb im Bahnbetrieb als solchem. Einen Wettbewerb zumindest mit großen Ähnlichkeiten zu dem, was die Grünen nun für den Bahn-Fernverkehr vorschlagen, gibt es in Deutschland bereits: Im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) werden die Verkehrsleistungen in der Regel von den Aufgabenträgern (also den Bundesländern oder ihrerseits beauftragten Verkehrsverbünden oder ähnlichen) ausgeschrieben, und neben der DB AG können sich auch andere Eisenbahnverkehrsunternehmen darauf bewerben. Tatsächlich geht dabei inzwischen rund die Hälfte der Zuschläge an andere Unternehmen – bei denen es sich im Übrigen oft um Tochterunternehmen der Staatsbahnen anderer EU-Länder handelt. Die Befürworter des Ausschreibungswettbewerbs verweisen auf die verbesserte Qualität bei gleichzeitig gesunkenen Kosten und die dadurch gestiegenen Fahrgastzahlen. Tatsächlich lassen sich die positiven Effekte aber vor allem auf verbesserte Konzepte der Aufgabenträger, die seitdem sehr viel großzügigere Finanzierung des SPNV sowie auf technische Innovationen zurückführen, die auch ohne solche Ausschreibungen möglich sind. Das zeigt unter anderem das Schweizer Modell, von dem weiter unten noch die Rede sein wird. Umgekehrt gibt es bei dem Ausschreibungswettbewerb immer wieder erhebliche Probleme mit der Qualität des Bahnverkehrs bis hin zum Komplett-Ausfall von Zugverbindungen oder gar ganzen Unternehmen. [5]
Lange Zeit waren die Löhne der Beschäftigten die hauptsächlichen Einsparungen der mit der DB AG konkurrierenden Unternehmen im SPNV. Teilweise bezahlten einige der Unternehmen ihr Personal weit unter den Tarifen – was ihnen einen erheblichen Kostenvorteil gegenüber der DB AG brachte. Abgesehen davon, dass gute Arbeitsbedingung und auskömmliche Löhne auch wichtige öffentliches Anliegen sein sollten und für eine gute Qualität des Bahnverkehrs wichtig sind, ist diese Strategie mit den zunehmenden Schwierigkeiten der Gewinnung von Bahnpersonal und der dadurch immer stärkeren Position der Gewerkschaften ohnehin nicht mehr möglich. Dadurch sind vielen der Bahnunternehmen in den letzten Jahren die Gewinne weggebrochen.
Dies ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb die Firma Abellio, ein Tochterunternehmen der Niederländischen Staatsbahn, seine Verkehre nicht mehr mit Gewinn betreiben kann und sich aktuell in einem Schutzschirmverfahren befindet, bei dem der Staat für einige Monate die Löhne übernimmt, um eine Insolvenz noch abzuwenden. So zahlt letztlich der Staat schon jetzt dafür, dass Abellio in den letzten Jahren mit Dumpingangeboten viele Aufträge im SPNV gewonnen hat. Dass sich das Unternehmen nun voraussichtlich ganz aus dem deutschen SPNV zurückziehen will und deswegen unter hohem Zeitdruck neue Betreiber für viele Strecken gesucht werden müssen, illustriert noch einmal die Risiken eines solchen Wettbewerbs: Betreiber können plötzlich wegbrechen, und dadurch haben sie ein hohes Erpressungspotential gegenüber den Ländern – die im aktuellen Fall seit Monaten intensiv mit Abellio verhandeln.
Grundsätzlich stehen die Aufgabenträger – im SPNV die Bundesländer und im Bahn-Fernverkehr eine nach den Plänen der Ampel-Koalition noch zu schaffende Bundesinstitution – bei dieser Form des Ausschreibungswettbewerbs immer in einem schwierigen Spannungsfeld: Auf der einen Seite wollen sie möglichst innovative Konzepte ermöglichen, und dafür müssen die Vorgaben bei der Ausschreibung möglichst offen sein. Auf der anderen Seite haben solche offenen Ausschreibungen seit den 1990er Jahren aber immer wieder erhebliche Probleme im Betrieb und eine uneinheitliche, oft mangelhafte Qualität zur Folge – im SPNV zum Beispiel verspätete, ausfallende oder zu kurze und unkomfortable Züge. Daher machen die Aufgabenträger im SPNV bei den Ausschreibungen zunehmend engere Vorgaben, und immer mehr Bundesländer schaffen sogar die Züge gleich selbst an. Baden-Württemberg bildet als erstes Bundesland inzwischen sogar selbst Personal aus und stellt es ein, um dadurch Zugausfälle aufgrund von Personalmangel bei den Betreiberunternehmen zu vermeiden. Durch diese immer engeren Vorgaben haben die Verkehrsunternehmen, die sich an der Ausschreibung beteiligen, letztlich kaum noch Spielräume – was sie auch selbst bemängeln. Eine Folge davon ist, dass sich zunehmend weniger Unternehmen überhaupt an den zunehmend aufwändigen und damit für alle Seiten teuren Ausschreibungen beteiligen. Und wenn das Bundesland oder der von ihm beauftragte Verkehrsverbund das Konzept für den Bahnverkehr schon so genau festgelegt hat, stellt sich die Frage, warum es ihn dann nicht gleich selbst betreibt – beispielsweise über eine Landesbahn, wie sie in einigen Ländern bereits existiert. Das wäre deutlich einfacher und risikoärmer. Auch einige Ökonomen schlagen inzwischen die Direktvergabe von SPNV-Leistungen an landeseigene Bahnen als bessere Alternative zum Ausschreibungswettbewerb vor. [6] Und in Baden-Württemberg ist eine solche Landesbahn, die Südwestdeutsche Landesverkehrs-GmbH (SWEG), gerade der Rettungsanker, um den durch die drohende Insolvenz von Abellio bedrohten Verkehr aufrecht zu erhalten. [7]
Ein „Open Access“-Wettbewerb, wie wir ihn bislang nur punktuell im Fernverkehr haben, bringt noch ganz andere Probleme mit sich. Dies zeigt sich beispielhaft an der dicht befahrenen Strecke Hamburg – Berlin, wo seit 2021 neben der DB auch Flixtrain unterwegs ist. Das führt unter anderem dazu, dass bestimmte Verbindungen für die Fahrgäste wegfallen, weil Flixtrain nur die Punkt-zu-Punkt-Verbindung zwischen den beiden Städten anbietet, nicht aber den vor- und nachlaufenden Verkehr. Bestimmte Verbindungen werden dadurch exorbitant teuer, weil man neben dem Flixtrain-Ticket zusätzliche Tickets (vor allem für den Nahverkehr) buchen muss. Und im Falle von Verspätungen hat man mit der Konstruktion schlichtweg Pech, denn nur ein durchgehendes Ticket beinhaltet die Fahrgastrechte im Falle von Verspätungen – so dass zum Beispiel ein späterer Zug genutzt werden kann. Dass Flixtrain solche durchgehenden Tickets nicht anbietet, zeigt die Rosinenpickerei dieses Geschäftsmodells: Flixtrain konzentriert sich ganz auf den einfachen Verkehr mit hohem Fahrgastpotential, und bisherige Verbindungen fallen dadurch effektiv weg. So verschlechtert sich auch die Anbindung einiger Städte auf der Strecke, weil die Flixtrains anders als die InterCitys der DB keine Zwischenhalte haben (in Büchen, Ludwigslust und Wittenberge). Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2021 fällt außerdem auch noch der beliebte durchgehende InterCity zwischen Berlin und Westerland (Sylt) weg, weil genau diese Fahrplantrasse nun ein Flixtrain befährt – der aber in Hamburg endet. [8] So führt diese Art des Wettbewerbs für viele Fahrgäste nicht zu der versprochenen Verbesserung, sondern im Gegenteil zu deutlichen Verschlechterungen. Zu begrüßen sind hingegen echte Ergänzungsverkehre wie die nächtlichen NightJets der Österreichischen Bundesbahn oder andere Nacht- und Urlaubszüge, die keine Konkurrenz zu DB-Zügen darstellen, sondern im Gegenteil die leider von der DB aufgegebenen Verbindungen ersetzen.
Gerade im Schienenpersonenfernverkehr kommt es eigentlich auf eine einheitliche, verlässliche Qualität im ganzen Land an. Und mehr noch als im Nahverkehr geht es um das reibungslose Funktionieren der Bahn als Netzwerk, das heißt alle Züge müssen aufeinander abgestimmt sein – was besonders im Falle von Verspätungen oder gar Zugausfällen funktionieren muss. Spätestens mit dem Deutschlandtakt, mit dem zukünftig die Fahrpläne im ganzen Land optimal aufeinander abgestimmt werden sollen und die Dichte an Zügen noch einmal stark erhöht werden soll, sind die Fahrpläne sogar exakt vorgegeben – und damit vielfach auch die Züge, die dafür überhaupt in Frage kommen. Vermutlich würde es daher beim konsequenten Durchdenken der Ideen von Grünen und FDP auch im Fernverkehr auf einen bundeseigenen Fahrzeugpool hinauslaufen, das heißt der Bund kauft selbst die Züge – auch weil sich sonst schon aufgrund der gigantischen Summen zur Finanzierung kaum andere Unternehmen als die DB an der Ausschreibung beteiligen könnten. Genau wie im SPNV stellt sich dann aber auch im Fernverkehr die Frage, welche Spielräume die Verkehrsunternehmen beim Betrieb überhaupt noch hätten und ob nicht der Betrieb unter der Obhut des Bundes die einfachere und sicherere Alternative ist.
Bei verschiedenen Betreiberunternehmen, zumal wenn sie rein gewinnorientiert agieren, bleiben zudem grundsätzliche Risiken: Sie können sich bei der Ausschreibung verkalkuliert und nicht genügend Personal rekrutiert haben, so dass Züge oder ganze Linien ausfallen. Oder ein Unternehmen kann sogar ganz bankrottgehen und damit von einem auf den anderen Tag ausfallen. Dass dies keine reine Schwarzmalerei ist, zeigt wiederum der deutsche SPNV-Wettbewerb, wo all das bereits real geschehen ist. [9] Solange es die DB AG als großes, bundeseigenes Unternehmen gibt, das notfalls immer einspringen kann, lassen sich viele dieser Probleme auffangen – aber bei dem angestrebten Wettbewerb geht es ja gerade darum, statt der großen DB AG viele kleinere Unternehmen zu schaffen. Dabei hat ein großes Unternehmen entscheidende Vorteile gegenüber der Zerschlagung des Betriebes in viele kleinere Unternehmen – beispielsweise bei der Vorhaltung von genügend Personal oder von Notfallkapazitäten wie Abschlepploks oder Reservezügen, die an möglichst vielen Orten im ganzen Netz zur Verfügung stehen müssen. Die Aufteilung in viele kleinere Unternehmen führt zu einem unzuverlässigeren Bahnbetrieb. Zusätzlich verschärft wird das Problem, wenn die Betreiberunternehmen ihrerseits weitere Subunternehmen beauftragen, etwa für die Wartung der Züge oder das Personal.
Die Konsequenzen verschiedener Betreibermodelle für den Bahnbetrieb lassen sich am besten am Vergleich Großbritanniens und der Schweiz zeigen: Großbritannien hat die Ausschreibungen des Bahnbetriebs im Wettbewerb am konsequentesten umgesetzt [10], während die Bahn in der Schweiz fast komplett öffentlich ist und der Fernverkehr überwiegend von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) betrieben wird – in enger Kooperation mit vielen kantonalen Bahnunternehmen. Und während das Schweizer System vielfach als das beste in Europa angesehen wird – mit einem perfekt abgestimmten integralen Taktfahrplan und einem zuverlässigen Verkehr – hat das britische Modell mit erheblichen Problemen zu kämpfen. Die Schweizer riefen dennoch eine Expertenkommission ins Leben, um die Strukturen ihres Bahnsystems auf den Prüfstand zu stellen – vor allem aufgrund der Kritik, dass die Wettbewerber auf der Schiene in der Schweiz keine optimalen Bedingungen haben. Das Ergebnis der Studie war, dass die vertikale Integration von Netz- und Zugbetreibern erhalten bleiben soll, weil sonst erhebliche Effizienzverluste durch die Trennung entstünden. [11] Als Nicht-EU-Land kann die Schweiz es sich leisten, eigene Strukturen beizubehalten, auch wenn sie nicht den Liberalisierungsvorstellungen der EU genügen. Auch Großbritannien hat sein Bahnsystem kürzlich von einer Expertenkommission prüfen lassen – vor allem aufgrund der Kritik der Fahrgäste. Herausgekommen ist der „Williams Rail Review“, der eindrucksvoll die großen Ineffizienzen des britischen Modells zeigt, die vor allem aus den zersplitterten Strukturen resultieren. [12] Daraufhin wird dort nun „Great British Rail“ als zusammenfassende Struktur der britischen Bahn neu geschaffen. Die regierenden Tories wollen den reinen Betrieb einiger Strecken zwar auch zukünftig an private Unternehmen vergeben; die Zeit der kompletten Trennung ist aber in Großbritannien wohl vorbei.
Auch die Situation in der Covid-19-Pandemie illustriert die unterschiedlichen Möglichkeiten einer staatlichen Bahn und eines reinen Privatunternehmens, das allein nach den Gewinnen schauen muss: Während die bundeseigene DB AG den Betrieb des Bahn-Fernverkehrs trotz geringer Fahrgastzahlen mit Ausnahme einiger Verstärkerzüge aufrecht erhielt, stellte der private Konkurrent Flixtrain seine Verbindungen gleich zu Beginn der Pandemie komplett ein. Der Betrieb von Zügen unter Pandemie-Bedingungen ist rein betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll, erfüllt aber dennoch einen wichtigen Zweck, nämlich die Grundversorgung mit Mobilität im ganzen Land. Die Verluste für die Vorhaltung von Zügen, die nicht fahren, und deren Personal kann Flixtrain dabei übrigens elegant abwälzen, denn das Unternehmen versteht sich selbst nur als Vertriebsplattform. Es beauftragt andere Unternehmen mit dem tatsächlichen Betrieb der Züge, die nun mit den Kosten dastehen. [13] Auch die DB AG erwirtschaftete aufgrund der eingebrochenen Fahrgastzahlen in den Pandemie-Monaten erhebliche Verluste mit dem Fernverkehr, konnte dabei aber immer davon ausgehen, dass der Staat diese ausgleicht, was aktuell durch eine staatliche Trassenpreissenkung auch geschieht. Gäbe es allerdings nur Unternehmen wie Flixtrain, wäre seit dem Beginn der Pandemie der Bahn-Fernverkehr in Deutschland wohl weitgehend eingestellt. Wie wichtig ein staatlicher Betreiber als Garant der Mobilität ist, zeigt wiederum ein kurzer Blick nach Großbritannien: Dort musste der Staat in der Corona-Krise den Bahnbetrieb von den privaten Unternehmen in seine Obhut übernehmen, um den Weiterbetrieb des Zugverkehrs zu gewährleisten.
Sollte also bei der Bahn einfach alles bleiben, wie es ist? Auf keinen Fall, denn die heutige DB AG ist als Aktiengesellschaft im Bundesbesitz ein ungünstiger Zwitter aus Privatunternehmen und Staatsunternehmen. Sie ist formell auf Gewinn hin orientiert, und bei vielen wichtigen Entscheidungen verweigert die Bundesregierung die politische Verantwortung und verweist stattdessen auf die „Eigenwirtschaftlichkeit“ des Konzerns – während sie gleichzeitig punktuell erheblichen Einfluss nimmt, etwa bei der Besetzung von Vorstandsposten. Diese DB AG versteht sich immer noch als internationaler Logistikkonzern, für den der Bahnverkehr im Inland nur eines von vielen Geschäftsfeldern ist, und sie ist inzwischen selbst in mehrere hundert Unternehmen aufgegliedert, die vielfach nicht gut zusammenarbeiten. [14] Die bessere Alternative wäre stattdessen eine gemeinwohlorientierte und demokratisch kontrollierte Deutsche Bahn ohne das Ziel einer Rendite, die sich auf ihr Kerngeschäft Bahn konzentriert und auf sinnvolle politische Ziele hin ausgerichtet ist – analog zu den Schweizerischen SBB. Und das oberste Ziel dabei müsste ein zuverlässiger, flächendeckender, komfortabler und bezahlbarer Bahnverkehr für alle Menschen im Land sein. Das muss nicht heißen, dass diese Bahn unwirtschaftlich wäre, aber sie hätte im Rahmen der politischen Vorgaben lediglich die Aufgabe, eine „schwarze Null“ zu erwirtschaften anstatt (scheinbarer) Gewinne.
Eine solche Strukturänderung wäre innerhalb der heutigen DB mit ihren auf Wettbewerb und Börsengang hin orientierten Strukturen sicherlich eine Herausforderung, aber möglich. Eine Zerteilung des Konzerns mit einer Ausgliederung der Infrastruktursparten in eine ganz neue Gesellschaft wäre hingegen eine noch sehr viel grundlegendere Reorganisation, die die Energie aller Beteiligten für viele Jahre binden würde. Damit wären die für eine Mobilitätswende notwendigen Verbesserungen im Bahnverkehr für viele Jahre blockiert.
Momentan sind die Regelungen der EU zwar komplett auf den „Eisenbahnmarkt“, eine Trennung von Netz und Betrieb und den Wettbewerb möglichst vieler Bahnunternehmen hin ausgerichtet. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen jedoch, dass das zu keinem guten Bahnverkehr geführt hat. Die Auftrennung in viele verschiedene Unternehmen und die Konkurrenz der Bahnunternehmen hat zahlreiche negative Auswirkungen. Diese Regelungen sind jedoch politisch änderbar – zumal wenn wichtige Länder wie Deutschland und Frankreich das wollen. Der Schlüssel auf allen Ebenen – auch auf europäischer – ist die Kooperation anstelle der Konkurrenz, denn Bahn im Sinne der Fahrgäste funktioniert am besten als möglichst gut aufeinander abgestimmtes Netzwerk. Die ohnehin erheblichen Umbrüche im Zuge der Covid-19-Pandemie könnten eine gute Gelegenheit für eine komplette Neuordnung der Mobilität in Europa sein – mit einer erheblichen, klimapolitisch gebotenen Verlagerung von der Straße und aus der Luft auf die Schiene.
Fußnoten
[1] Spiegel Online vom 4.11.2021
[2] Siehe dazu auch die Blogbeiträge unter http://mobilitaetswen.de/die-nachtzuege-schon-wieder-das-ende-eines-zugsystems/ und http://mobilitaetswen.de/nachtzuege-als-klimaschuetzer.
[3] ETCS = European Train Control System. Dieses System soll zukünftig die in Deutschland bestehenden Zugsicherungssysteme PZB und LZB ablösen.
[4] Es kann langfristig deutlich günstiger sein, die Züge mit kleineren Akkus auszustatten, im Gegenzug aber mehr Bereiche im Netz zu elektrifizieren oder bestehende Oberleitungen so zu modifizieren, dass die Züge mehr Energie abnehmen können, um während der Fahrt gleichzeitig ihren Akku (wieder) aufzuladen. Möglicherweise ist sogar die Elektrifizierung mit Oberleitung insgesamt am günstigsten. Auch hier muss letztlich das System aus Netz und Zugbetrieb als Ganzes optimiert werden.
[5] Eine ausführliche Analyse des Wettbewerbs im SPNV ist hier zu finden.
[6] Vgl. Becker, T., Leister, H., Beckers, T., Wichmann, A. & Weiß, H. (2020): „Optionen und Empfehlungen bezüglich der Weiterentwicklung der Organisation der Leistungserbringung im Thüringer SPNV“, Studie im Auftrag der Staatskanzlei des Freistaats Thüringen.
[7] Schwäbisches Tagblatt vom 27.10.2021
[8] Berliner Zeitung vom 21.10.2021
[9] Konkrete Beispiele sind in diesem Beitrag geschildert.
[10] Bei der Privatisierung der britischen Bahn im Jahr 1994 war anfangs auch das Netz privatisiert worden. Es wurde jedoch von dem Netzunternehmen „Railtrack“ nur unzureichend instandgehalten und musste daher wieder in staatliche Obhut (als „Network Rail“) übernommen und für viele Milliarden britische Pfund instandgesetzt werden. Seitdem wird nur noch der Betrieb von privaten Unternehmen durchgeführt.
[11] Expertengruppe Organisation Bahninfrastruktur (EOBI) Schlussbericht. Herausgegeben vom Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK, dem Bundesamt für Verkehr BAV und der Expertengruppe Organisation der Bahninfrastruktur Paul Blumenthal, Bern, April 2013. Online unter https://www.bav.admin.ch/dam/bav/de/dokumente/aktuell-startseite/berichte/eobi_-_schlussbericht.pdf.download.pdf/eobi_-_schlussbericht.pdf
[12] The Williams Rail Review – The root and branch review of Britain’s railway, independently chaired by Keith Williams. Herausgegeben vom Department for Transport am 25.2.2019. Online unter https://www.gov.uk/government/collections/the-williams-rail-review
[13] Flixtrain hat sich während der Einschränkungen im Frühjahr 2020 darüber mit dem bisherigen Betreiber der Züge zerstritten und hat daher ein neues Partnerunternehmen gesucht. Das gleiche Modell gilt im Übrigen auch bei den „Flixbussen“, wo der größte Teil des Risikos bei den meist mittelständischen Busunternehmen liegt.
[14] Die Kritik ist in dem jährlich erscheinenden „Alternativen Geschäftsbericht“ vom Bündnis Bahn für Alle näher ausgeführt.