Stuttgart 21? „Die bauen doch längst!“ … und eine Volksab­stimmung pro S21 gab’s doch auch?!“ 

„… und eine Volksab­stimmung pro S21 gab`s doch auch?!“ – so die verbreitete Wahrnehmung, gefolgt von der Schlussfolgerung, wer da noch Widerstand leistet, müsse wohl etwas aus der Zeit gefallen sein. Falsch gefolgert! Nicht die Bürgerbewegung ist der Anachronismus, sondern das Projekt. Was Planungschaos und Verzögerungen betrifft, liegt Stuttgart 21 gleichauf mit der Elbphilharmonie und dem BER. Was die Kosten betrifft, die bahnunabhängige Gutachten und der Bundesrechnungshof längst auf 10 Milliarden Euro taxieren (ohne Neubaustrecke nach Ulm), toppt S21 alles.

Aber das allein kann die Beharrlichkeit dieser Bürgerbewegung nicht erklären. Die Elbphilharmonie wird ja trotz Planungschaos heute gefeiert, und der Kölner Dom wurde auch viel teurer als geplant. Was treibt also nach wie vor die vielen Bürgerinnen und Bürger an, die sich gerade zur 386. Montagsdemo getroffen haben, einer Mischung aus Kulturevent und Volkshochschule unter freiem Himmel? Was motiviert die über 100 „MahnwächterInnen“, die in einem Infozelt gegenüber dem Bahnhof seit sechs Jahren ununterbrochen Tag und Nacht das Publikum mit Werbematerial, Literatur und großen Schautafeln über das Projekt informieren? Woher nehmen die vielen Gruppen die Kraft, sich regelmäßig zu treffen und immer wieder initiativ zu  werden, darunter die Netzwerke21 (betroffene Eigentümer), die Stadtteilgruppen, die Kaktusgruppe in der IHK, die Ingenieure22, die TheologInnen gegen S21, die JuristInnen zu S21, die ArchitektInnen für K21, die Schutzgemeinschaft Filder, die SPD-lerInnen gegen S21, die GewerkschafterInnen gegen S21, die Parkschützer und vieles mehr. Die meisten der Genannten im Aktionsbündnis gegen S21 vereint.

Die umfassendste Erklärung für das Durchhaltevermögen dieser Bürgerbewegung liefert Winfried Wolf in seinem S21-Standardwerk „abgrundtief + bodenlos“. Es ist die Erkenntnis, dass es um mehr als um einen Bahnhof geht. Der tiefe Einblick in eine Politik, die es bis heute geschafft hat, mit Täuschungen, falschen Versprechen und Zusagen (z. B. bei der Volksabstimmung: „Kostendeckel 4,8 Milliarden Euro“) und viel medialem Rückenwind und medialem Schweigen, ein absolut sinnloses, verkehrspolitisch kontraproduktives und klimakatastrophales Projekt durchzuboxen. S21 leistet schon jetzt mit dem täglichen Verkehrschaos auf Straßen und Schienen, mit tausenden zusätzlichen Lkw, riesigem Betonverbrauch und Grün-Rodungen einen erklecklichen Beitrag zum Ruf Stuttgarts als Feinstaub- und Immissionshauptstadt. Mit inzwischen tätiger Mithilfe der Grünen vor Ort wird eine Verkehrswende rückwärts organisiert: Mit halb so vielen Gleisen wie derzeit wird zwangsläufig Verkehr auf die Straße verlagert. Zudem sollen 20 der 60 Tunnelkilometer durch quellfähigen Gipskeuper (Anhydrit) geführt werden – mit einem völlig unerprobten Verfahren. Die Folgen für Stuttgart und die Region würden die von Rastatt in den Schatten stellen.

Kein Wunder, dass diese Bürgerbewegung, völlig unabhängig vom Baufortschritt, den Ausstieg fordert, genauer gesagt den Umstieg. Denn sie hat ein höchst detailliertes und abgesichertes Konzept (www.umstieg21.de) für den Erhalt des Kopfbahnhofs bei Umnutzung des inzwischen Zerstörten und Gebauten vorgelegt.

Werner Sauerborn, Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21