Stillstand vorprogrammiert

Ein Beitrag von Carl Waßmuth

Was auf den ersten Blick wie eine langweilige technische Debatte klingt, hat gesellschaftspolitisch enorme Sprengkraft: Hinter Begriffen wie »Trennung von Netz und Betrieb« verbirgt sich ein neuer Anlauf für die Privatisierung der Bahn.

Breite Einigkeit besteht, dass bei der Bahn etwas passieren muss: Der Service ist abschreckend, die Normalpreise ohne Zugbindung liegen oft bei einem Vielfachen von Flugreisen, Brücken und Strecken verfallen immer mehr. Die 1994 in Kraft getretene Bahnreform hat zur Gründung der Deutschen Bahn AG als privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft des Bundes geführt. Schienenwege wurden für private Eisenbahnunternehmen geöffnet und die Zuständigkeit für den Schienenpersonennahverkehr vom Bund auf die Länder übertragen. Die Länder bekommen seither vom Bund Geld und weiteten vor allem in den attraktiven Metropolregionen ihre Angebote aus, während beispielsweise in den ostdeutschen Flächenländern eine Ausdünnung des Netzes und Angebots erfolgte. Damit wurde die Bahnreform aber nicht zu einer Erfolgsstory, im Gegenteil, die negativen Effekte des Strukturwandels überwiegen bei weitem. Die DB AG wurde auf das Gewinndenken eines privatwirtschaftlichen Unternehmens umprogrammiert, die neuen Player im Personennahverkehr und Güterverkehr wollen ohnehin von vornherein Rendite machen. Der Bund als Eigentümer der DB AG nahm seine Steuerungsfunktion nicht im gebotenen Maße wahr. Es folgten Personalabbau, Lohndumping, Abbau der Versorgung in der Fläche, vieler Weichen, Überholgleise, Be- und Entladepunkte und die Ausweitung der DB-Konzern-Aktivitäten auf diverse Logistikfelder weltweit. Das »Brot-und-Butter-Geschäft« wurde zur Nebensache. Personen und Güter blieben auf der Strecke. Bei den riesigen Problemen der Bahn handelt es sich um Staatsversagen, denn die DB ist zu 100 Prozent in öffentlichem Eigentum. Eine große Zahl von leidvoll erlebten Privatisierungen weltweit lehrt, dass Staatsversagen oft zu einer Aufteilung mit anschließendem Verkauf von Teilen geführt hat. Der schlechte Zustand verleitet zu Fatalismus, Beschäftigte und Kundenverbände geben oft ihren Widerstand gegen Privatisierungsvorhaben auf, wenn sie das Gefühl haben, es könne nicht noch schlechter werden. Auch von Bahnbeschäftigten und Kundschaft hört man oft verzweifelt, es könne nicht noch schlimmer werden.

Doch der Eindruck trügt. Es kann noch schlechter werden. Wer sich mit der Zerschlagung der Bahn beschäftigt, landet schnell beim britischen Modell, das aber alles andere als ein leuchtendes Vorbild ist. Vielmehr ist es für seine hohen Kosten und seine Ineffizienz traurig berühmt. Die British Rail wurde nach der Trennung von Netz und Betrieb an 25 Franchisegeber verkauft. Die Folgen: Zersplitterte Zuständigkeiten, ein Chaos von Preisen und Anschlüssen, Pendler müssen für Jahreskarten bis zu fünfmal so viel bezahlen wie Bahnkunden auf dem europäischen Festland. Finanzinvestoren schätzen es, wenn der Staat die kostenintensive Instandhaltung flächendeckender Netze übernimmt und sie sich die Rosinen herauspicken können. Renditen lassen sich auch gewinnen, wenn der Staat erpressbar wird, etwa weil er durch eigene Tätigkeit den Bahnbetrieb gar nicht mehr gewährleisten könnte. Die Trennung von Netz und Betrieb, wie sie FDP und Grüne im Koalitionsvertrag vorgezeichnet haben, führt weg von der integrierten Bahn, mit der die Schweiz das beste Bahnsystem der Welt geschaffen hat. Vermutlich aber am schlimmsten ist: Eine Trennung lähmt und behindert den Umbau zur »Klimabahn« auf Jahre.

Der Koalitionsvertrag schreibt: »Wir werden die Deutsche Bahn AG als integrierten Konzern inklusive des konzerninternen Arbeitsmarktes im öffentlichen Eigentum erhalten. Die internen Strukturen werden wir effizienter und transparenter gestalten. Die Infrastruktureinheiten (DB Netz, DB Station und Service) der Deutschen Bahn AG werden innerhalb des Konzerns zu einer neuen, gemeinwohlorientierten Infrastruktursparte zusammengelegt. Diese steht zu 100 Prozent im Eigentum der Deutschen Bahn als Gesamtkonzern. Gewinne aus dem Betrieb der Infrastruktur verbleiben zukünftig in der neuen Infrastruktureinheit. Die Eisenbahnverkehrsunternehmen werden markt- und gewinnorientiert im Wettbewerb weitergeführt.«

Verbal wird also ein integrierter Konzern beschworen. Dieses Bekenntnis ist vermutlich dem Gegenwind aus SPD, EVG und Gruppierungen wie Bahn für Alle geschuldet. Die Regelungen zur Infrastruktursparte sprechen eine ganz andere Sprache. Die Ampel will die Infrastruktur (Netz, Bahnhöfe) zusammenlegen, vermutlich in einer eigenen GmbH. Zusammenlegen klingt auch noch gut, tatsächlich ist es aber eine Herauslösung: Die neue Sparte soll wirtschaftlich anders agieren, nämlich »gemeinwohlorientiert«. Der Betrieb der DB AG wird zum nicht am Gemeinwohl orientierten Rest. Und der Rest soll auch noch stärker als bisher dem Wettbewerb zugeführt werden, sprich: Der Wettbewerb wird auch im Fernverkehr ausgeweitet, samt Angebotschaos und Ausschreibungsirrsinn; das Zusammenspiel von Netz und Betrieb, das nur bei einer integrierten Bahn gut funktioniert, wird noch weiter beschädigt. Und nirgendwo ist festgehalten, dass der »Rest«, immerhin alle Eisenbahnverkehrsunternehmen der DB, nicht verkauft wird. Dieses Szenario ist real, Befürworter*innen der Vorhaben im Koalitionsvertrag blenden es aber einfach aus.

Bei der deutschen Autobahn GmbH kann man beobachten, was schon ein relativ überschaubarer Strukturwandel verursacht. Dort haben die Länder 2017 die Zuständigkeit an den Bund abgegeben. Seither herrscht Stillstand, nur von Skandalen unterbrochen. Die Aufteilung der Bahn wäre eine ungleich größere Aufgabe. Die Verzahnung von Infrastruktur und Betrieb ist bei der Bahn so groß wie bei keiner anderen Einrichtung der Daseinsvorsorge. Verkehr verursacht rund ein Viertel der gesamten Treibhausgas-Emissionen. Wenn die Bahn auf unnötige Großprojekte und viele der kohlendioxidintensiven Tunnel verzichtet, kann sie wirklich klimafreundlich sein. Um aber von der reinen Möglichkeit zur echten Alternative zu Autos, Lkws und Flügen zu werden, müsste die Bahn fit gemacht werden. Man müsste sie ausbauen zur Klimabahn und dazu Infrastruktur und Betrieb gezielt und klug weiterentwickeln. Das geht nur, wenn man die ganze Bahn öffentlich steuern kann. Die Koalition steht also am Scheideweg: entweder die Bahn zerschlagen und privatisieren – oder die ganze, integrierte Bahn demokratisieren, verbindlich dem Gemeinwohl unterstellen und zur Klimabahn ausbauen.

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