Rundbrief Ausgabe 42 // 04. Februar 2021

Plädoyer gegen die Auflösung der Einheit Netz und Betrieb

Liebe Freundinnen und Freunde von Bahn für Alle,

wer hätte das nicht gern: Bahnangebote, die attraktiv, klimafreundlich, barrierefreie, bezahlbar, unkompliziert, bequem und europaweit vernetzt sind bei Tag und in der Nacht. Diese und noch viel mehr Eigenschaften für die Bahn der Zukunft fallen der grünen Bundestagsfraktion für ihre Vision einer zukünftigen Bahn ein, veröffentlicht am 28. Dezember 2020 im Papier „Einfach Bahnfahren – Die Bahn zum stärksten Verkehrsmittel entwickeln“. Die Strategie markiert offensichtlich wesentliche Ziele für eine schwarz-grüne Bundesregierung mit einem grün besetzten Verkehrsministerium.

Bei näherem Hinsehen ist das Papier jedoch voller Haken und Widersprüche. Viele richtige Analysen und Zielformulierungen werden mit kontraproduktiven Maßnahmen kombiniert. Die Grünen wollen die Deutsche Bahn AG zerschlagen: in eine Infrastrukturgesellschaft im Bundeseigentum – eventuell im zweiten Schritt als Anstalt des öffentlichen Rechts – und eine staatseigene (wie lange?) GmbH für die Beförderungs- und Transportaufgaben. Die Infrastrukturgesellschaft soll vom Eisenbahnbundesamt kontrolliert werden. Der Bund soll im Fernverkehr zum Aufgabenträger werden und die im Deutschlandtakt vorgesehenen Fahrten per Konzession an verschiedene Eisenbahnverkehrsunternehmen vergeben. Die dafür zu gründende Koordinierungsstelle ist dem Verkehrsministerium unterstellt und arbeitet eng mit dem Eisenbahnbundesamt zusammen. Das heißt, auch der gesamte Fernverkehr wird nach Vorstellung der Grünen künftig ausgeschrieben und in Bündeln an die verschiedenen Wettbewerber, die dann zum Zuge kommen, vergeben.

Zwar kritisieren die Grünen im Papier die unübersichtliche Zahl von Verbünden und Tarifen im heute bereits ausgeschriebenen Regionalverkehr, dennoch treiben sie den Prozess in ihrem Papier voran und weiten den Flickenteppich im Nahverkehr auf den Fernverkehr aus – und ebenso den bereits mit der Bahnreform von 1994 begonnenen Privatisierungsprozess. Nachdem damals die Deutsche Bahn in eine AG umgewandelt und damit formell privatisiert wurde, stünde nach den grünen Vorstellungen nun mit den Ausschreibungen im Fernverkehr auch die weitergehende materielle Privatisierung durch Vergabe des Betriebs im Fernverkehr an unterschiedliche Bewerber an – also auch an private Unternehmen oder Töchter der Nachbarbahnen. Interessant in diesem Zusammenhang auch der geplante Infrastrukturfonds, aus dem die zu gründende Infrastrukturgesellschaft den Erhalt und Ausbau der Infrastruktur finanzieren soll. Der Fonds soll kreditfähig sein, hier wird den Banken und Fondsgesellschaften die Tür geöffnet. Infrastruktur ist ein begehrtes Anlagemodell. Günstiger oder sicherer ist dadurch noch kein Projekt geworden.

Wir von Bahn für Alle sehen das Konzept kritisch und haben in einem Webbeitrag Vor- und Nachteile der Trennung von Netz und Betrieb sowie der Forcierung des Wettbewerbs beleuchtet. Wir lehnen eine Aufspaltung in Netz und Betrieb ab. Die gesamte Deutsche Bahn AG muss aus unserer Sicht gemeinnützig werden. Perspektivisch sollte auch der gesamte Schienenverkehr wieder eine integrierte Struktur in öffentlichem Eigentum sein, dabei in Teilen dezentralisiert und damit regionalisiert.

Für die S-Bahnen in Berlin und Hamburg – und nur für diese – sehen die Grünen „die Möglichkeit, den Ländern über eine Mehrheitsbeteiligung an den ausführenden Unternehmen die Direktvergaben zu ermöglichen, um bei diesen speziellen Eisenbahnsystemen die Komplexität zu reduzieren“. In Berlin passiert aber unter Federführung der grünen Verkehrssenatorin gerade das Gegenteil: Die im vergangenen Jahr unter Rot-Rot-Grün begonnene Ausschreibung von zwei der drei S-Bahn-Netzbereiche sowie der Beschaffung und Instandhaltung/Wartung der Züge droht zu einer Zerschlagung und materiellen Privatisierung des Betriebs zu führen und ruft gleichzeitig einen Unterbietungswettkampf hervor, der die im Papier geforderten Qualitätsansprüche in Frage stellen muss. Wie viel ist die grüne Strategie wert, wenn gerade in diesem Moment in Berlin Pflöcke für 15 (Betrieb) bis 30 Jahre (Wagenpool) eingeschlagen und Kritiker*innen, zu denen auch Bahn für Alle zählt, nicht gehört werden?

Interessant auch die Vorstellungen zum Tarifdschungel, den die Grünen abholzen wollen. Durch die Vergabe des Fernverkehrs an verschiedene Anbieter wird der Dschungel aber dichter. Das will man dann mit einem Mobilitätspass heilen, der durch die vorgeschlagene Provision die Fahrpreise erhöhen dürfte.

Sinnvoll hingegen ist die Forderung der Grünen, „3.000 Kilometer Bahnstrecken bis 2030 zu reaktivieren“. Allerdings wurden seit 1994 mehr als 7.000 Kilometer Bahnstrecken aufgegeben. Allein in der Zeit, als die Grünen mit der SPD zusammen die Regierung stellten, wurden mehr Kilometer des Schienennetzes abgebaut, als jetzt an Wiederaufbau gefordert wird. Ende 1998 hatte das Netz eine Länge von 38.077 Kilometern; Ende 2005 waren es nur noch 34.217 Kilometer. Bahn für Alle fordert in einem ersten Schritt den Wiederaufbau des Netzes auf den Umfang von 1994, also die Reaktivierung von 7.000 Kilometern.

Wenn die Grünen in ihrem Papier fordern, dass Bahnverkehr der Zukunft mehr sein muss „als nur Daseinsvorsorge“ und dann die objektive und subjektive Sicherheit, WLAN, bequeme Sitze, gute Beleuchtung und ein hochwertiges Ambiente in allen Zügen als Standard fordern, so wird damit der Begriff Daseinsvorsorge unterschätzt, wenn nicht entwertet.

Es wäre nämlich schon ein riesiger Fortschritt, wenn wir eine dem Gemeinwohl verpflichtete Bahn hätten, demokratisch kontrolliert und gesteuert, bürger*innennah, als leistungsfähiger Akteur einer Verkehrswende, mit der klimaschädliche Verkehre von der Straße und aus der Luft auf die Schiene verlagert werden. Bequeme Sitze und WLAN gehören hier natürlich dazu. Es muss aber vor allem auch die dazugehörigen Zugrelationen geben. Das wäre aus der Sicht von Bahn für Alle eine an der Daseinsvorsorge orientierte Bahn.

Herzlich grüßt der KoKreis von Bahn für Alle
Hendrik Auhagen |  Bernhard Knierim | Katrin Kusche | Carl Waßmuth | Winfried Wolf

PS: Bis zum 22. März 2011 gab Bahn für Alle insgesamt 41 Rundbrief-Ausgaben heraus. Danach konzentrierten wir uns neben unseren Aktionen zu aktuellen Bahnentwicklungen, zum Beispiel dem Kampf zur Rettung der Nachtzüge, publizistisch vor allem auf die Herausgabe des jährlichen Alternativen Geschäftsberichts und die Bestückung unserer Website, führten Konferenzen durch, nahmen an öffentlichen Anhörungen teil und so weiter. Der Rundbrief geriet ins Hintertreffen. Mit dem nunmehr vorliegenden Rundbrief nehmen wir die Rundschreiben-Tradition wieder auf und beabsichtigen, dass dieser zwar in lockerer Reihenfolge, aber mindestens einmal im Vierteljahr erscheint. Empfehlen Sie den Rundbrief auch Ihren Bekannten weiter. Der Rundbrief kann auf unserer Website kostenlos abonniert werden.

INFOBOX/PRESSESCHAU (Auswahl):

Pressemitteilungen von Bahn für Alle in den vergangenen drei Monaten:

28.01.2021: Das Bündnis Eine S-Bahn für Alle, zu dessen Gründerorganisationen Bahn für Alle gehört, zog vor den Sitz der Verkehrssenatorin unter dem Motto: „Wir bewerben uns: Die S-Bahn uns Berliner*innen!".

28.12.2020: „Gemeinnutz ja, Aufspaltung nein“. Bahn für Alle begrüßt wichtige Bahnvorschläge der Grünen. Die im Papier "Einfach Bahnfahren - Die Bahn zum stärksten Verkehrsmittel entwickeln" veröffentlichte Strategie reicht aber aus Sicht des Bündnisses nicht aus.

07.12.2020: „Bahn für Alle und Back on Track begrüßen neue Nachtzüge“. Die beiden Bündnisse begrüßen, dass die Bahnunternehmen aus Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz ab 2021 neue, gemeinsame Nachtzüge betreiben wollen. Damit könnte der jahrlange Kampf – zunächst für den Erhalt und Ausbau dieser Zuggattung, dann für die Wiedereinführung – erfolgreich sein.

01.11.2020: „Deutsche Bahn verkauft ihr gesamtes IT-System an ‚US-Datenkraken‘“. In einer Presseerklärung vom 28. Oktober 2020 feierte die Deutsche Bahn den vollständigen Abschluss der Auslagerung ihres gesamten IT-Systems in eine Cloud, die von Amazon AWS und Microsoft Azure kontrolliert wird. In einer gemeinsamen Presseerklärung kritisieren die Initiative Prellbock Altona und Bahn für Alle die Entwicklung und formulieren Forderungen. Ausführlich als Hintergrund ein Beitrag von Winfried Wolf auf den Nachdenkseiten.

Weitere neue Artikel auf der Website von Bahn für Alle:

22.01.2021: Schienenersatzverkehr nervt viele Reisende. Dabei zeigen Beispiele, dass es auch anders geht. Das Verkehrswende-Bündnis Konstanz hat zusammen mit dem Grünen-Kreisverband vier Forderungen für Schienenersatzverkehr aufgestellt. Darüber berichtet Hendrik Auhagen in seinem Beitrag "SEV – wie Millionen von Bahnreisenden zurück ins Auto 'geprügelt' werden".

20.01.2021: „Der Irrglaube an den Wettbewerb im Bahn-Fernverkehr. Warum das Modell der Grünen nicht funktioniert und welche Alternative es gibt“, Ein Beitrag von Bernhard Knierim zur von den Grünen vorgeschlagenen Trennung des Schienennetzes und des Bahnbetriebs.

19.01.2021: Mit einem Memorandum möchte Wolfgang Hesse von Bürgerbahn statt Börsenwahn die Diskussion über die Schnellstrecke Hannover-Bielefeld und den Bahnkonten Hannover konstruktiv unterstützen, dabei aber die Randbedingungen nicht aus dem Blick zu verlieren: „Memorandum zur Schnellstrecke Hannover – Bielefeld und zum Bahnknoten Hannover“.

11.01.2021: „S-Bahn Berlin: Privatisierung mit einer Anstalt des öffentlichen Rechts“. Berlin privatisiert seine S-Bahn nach dem britischen Modell. Die eigens gegründete Landesanstalt Schienenfahrzeuge wird eine staatliche Briefkastenfirma. Die Folgen tragen die BürgerInnen und die Umwelt – 30 Jahre. Ein Ausstieg ist noch möglich. Eine Analyse von Carl Waßmuth.

23.12.2020: „Neue Nachtzüge? Ein Anfang, aber mehr auch nicht“. Großer Bahnhof. Am 8. Dezember 2020 stellten die Verkehrsminister, und die Verkehrsministerin (in Österreich gibt es mit Leonore Gewessler eine Frau im Verkehrsministerium) sowie die Bahnchefs von Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz eine Kooperation für neue Nachtzüge vor. Zu dem schon in den letzten Jahren angewachsenen NightJet-Netz der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) sollen zahlreiche neue Linien kommen. Ist das die Renaissance des Nachtzugsegments? Kommt das Thema Klimaschutz jetzt in der Verkehrspolitik an? Ein Beitrag von Bernhard Knierim.

Infobox:  Artikel und Papiere anderer (Auswahl):

28.12.2020 | Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Einfach Bahnfahren – Die Bahn zum stärksten Verkehrsmittel entwickeln“, Fraktionsbeschluss vom 15. Dezember 2020.

Die Pläne der Grünen werden unter anderem von folgenden Zeitungen aufgegriffen:

28.12.2020|taz online: Wirtschaftsredakteurin Anja Krüger:  „Grünen-Plan für Bahnreform: Offensive für die Schiene“: erläutert die Bahnpläne von Bündnis 90/Die Grünen.

28.12.2020|Zeit online: „Grüne fordern weitreichenden Umbau der Deutschen Bahn“.

29.12.2020|Merkur online: „Comeback für Geisterstrecken: Grüne wollen die Bahn-Revolution – erste Pläne für ‚grün besetztes Ministerium‘?“

Weitere Themen:

25.12.2020 | Blog Winfried Wolf: „Kommt es im Frühjahr 2021 zu einem harten Tarifkampf bei der Deutschen Bahn AG?“

12.01.2021 | Spiegel online: „Coronakrise lässt Güterverkehr über die Seidenstraße boomen“. Der Spiegel berichtet über eine Erfolgsgeschichte der DB, während ansonsten die finanziellen Aussichten für die Bahn angesichts der Pandemie weniger rosig sind:

31.08.2020 | Nachdenkseiten: Winfried Wolf: „Der stramme Marsch der Deutschen Bahn  in den Schuldenturm“.

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