Deutschland-Takt und BMVI-Zielfahrpläne: Chancen, Defizite und Lösungsvorschläge

Prof. Dr. Wolfgang Hesse
Eisenbahn-Revue International 7/2019, Internet-Publikation mit Genehmigung des Verlags Minirex AG

Im Oktober 2018 hat der Bundesverkehrsminister das „Zukunftsbündnis Schiene“ ausgerufen und den Deutschland-Takt (kurz: D-Takt) zur künftigen Leitlinie für die Organisation des Bahnverkehrs in Deutschland erklärt. Diese Entscheidung ist uneingeschränkt zu begrüssen und könnte – ernsthaft umgesetzt – eine Wende in der deutschen Bahn- und Verkehrspolitik einleiten. Leider kommt sie mit 30 Jahren Verspätung.

Man erinnere sich: In der Schweiz hatte man schon 1982 den Taktverkehr eingeführt, und 1987 hatte man sich in einer Volksabstimmung für den landesweiten Ausbau der Bahn-Infrastruktur und später für dessen Finanzierung ausgesprochen. Damit wurde das vorbildliche System „Bahn 2000“ auf die Schiene gebracht, das dem Prinzip des Integralen Taktfahrplans (ITF) folgt.

Dieses besagt, dass die Züge des Fern- und Nahverkehrs im Stundentakt (oft auch im Halb- oder ausnahmsweise im Zweistundentakt) verkehren, an allen wichtigen Bahnknoten etwa gleichzeitig – vorzugsweise symmetrisch zu den leicht merkbaren Minuten 00 oder 30 – eintreffen und nach einer kurzen Umsteigezeit wieder in alle Richtungen weiter fahren (siehe Abbildung 1). So kann man optimale Reiseketten für die Fahrgäste herstellen und auch für den Güterverkehr verlässliche Trassen vorhalten.

Abbildung 1: Der Knoten im ITF, dargestellt als Uhr mit an- und abgehenden Zügen, ergibt eine Rosette (Zeichnung: W. Hesse).

In der Schweiz wurde dieses System 2004 mit den Infrastruktur-Massnahmen des Projekts „Bahn 2000“ weiter ausgebaut. Es wird immer noch verfeinert und mit Taktverdichtungen erweitert. Ein grosser Vorteil dieses Vorgehens besteht gerade darin, dass man das Angebot schrittweise erweitern und ausbauen kann.

Der Deutschland-Takt hat jedoch beträchtliche Implikationen administrativer, organisatorischer, bautechnischer und damit finanzieller Art. Auf die zahlreichen noch zu lösenden administrativen Probleme – zum Beispiel die Frage nach den Zuständigkeiten von Bund, Ländern, Deutscher Bahn (DB) und anderen Eisenbahn-Unternehmen – soll hier nicht näher eingegangen werden. Im folgenden geht es vielmehr vorrangig um die zukünftige Fahrplangestaltung und die daraus resultierenden Anforderungen an die Infrastruktur, speziell an den Aus- oder Neubau von Strecken und Bahnknoten.

Das Bundesverkehrsministerium (BMVI) hat dazu „Zielfahrpläne 2030“ entwickeln lassen und veröffentlicht, siehe [1]. In jüngster Zeit wurde ein zweiter Gutachterentwurf zum D-Takt mit stellenweise veränderten Zielfahrplänen veröffentlicht [2]. Diese weisen zum Teil sehr ambitionierte Zielsetzungen auf – sowohl was einzelne Fahrzeit(verkürzung)en als auch was die Bedienungsfrequenz, vornehmlich im Fernverkehr, betrifft.

Vorgeschichte des D-Takts und Ausbau der Infrastruktur

Die Entwicklung des D-Takts hat eine lange und zum Teil leidvolle Vorgeschichte. Im Fernverkehr hatte sie in den 1970er Jahren mit dem damals vorbildlichen IC-Taktsystem begonnen, das die Zentren Westdeutschlands im Stundentakt miteinander verknüpfte. Zum weiteren Eckpfeiler des getakteten Fernverkehrs wurde der 1988 eingeführte Interregio (IR), der viele Ober- und Mittelzentren (allerdings meist nur im Zweistundentakt) verband, der die Lücke zwischen Fern- und Nahverkehr füllte und mit Beginn der 1990er Jahre auch weite Teile Ostdeutschlands mit (wenn auch rudimentärem) Fernverkehr versorgte. Leider fiel dieses vorbildliche Zugsystem Anfang der 2000er Jahre dem Spardiktat eines früheren Bahnchefs zum Opfer [3].

Nach der Bahnreform von 1994 haben einzelne Länder beziehungsweise Regionen wie Rheinland-Pfalz, Schwaben-Allgäu, Bayern, später auch die ostdeutschen Länder Taktfahrpläne im Nahverkehr eingeführt. Der damalige Bahnchef Heinz Dürr nahm noch im Vorfeld der Bahnreform positiv Bezug auf diese Bestrebungen und sah sie als Vorbild für einen aufzubauenden bundesweiten Taktfahrplan.

Um 1990 begann in Deutschland das Zeitalter des Hochgeschwindigkeitsverkehrs (HGV). Die 1991 in Betrieb gegangene neue Schnellstrecke von Hannover nach Würzburg wies noch zum grossen Teil ITF-gerechte Fahrzeiten auf und legte damit eine Basis für einen künftigen landesweiten D-Takt. Weitere Schnellstrecken wie zum Beispiel Nürnberg – Ingolstadt und Köln – Frankfurt-Flughafen fügten sich relativ gut in das Taktsystem.

Ein „Ausrutscher“ war (und ist bis heute) allerdings die 1991 eröffnete Strecke Mannheim – Stuttgart mit mindestens 36 Minuten Fahrzeit. Auch die neue, viel gerühmte Schnellstrecke von Nürnberg nach Halle / Leipzig (und Berlin) über Erfurt ist aus ITF-Sicht wegen der Fahrzeiten von zirka 70 Minuten (bis Erfurt) beziehungsweise 35/40 Minuten (nach Halle oder Leipzig) ungünstig ausgelegt. Zahlreiche Warnungen und Alternativvorschläge im Vorfeld wurden konsequent ignoriert. Jetzt müssen die Fahrplan-Entwickler auf Notbehelfe sinnen, und für die Reisenden kommt es zu unvermeidlichen Wartezeiten.

Aber nicht nur die Fahrzeiten sind entscheidend für einen reibungslos funktionierenden ITF, sondern vor allem auch die Kapazitäten der Bahnknoten und deren voneinander unabhängige Zu- und Abläufe. Beim Ausbau in der Schweiz hat sich gezeigt, dass diese Anforderungen den Schwerpunkt der Investitionen beanspruchten. In Deutschland weisen vor allem wichtige Bahnknoten wie Köln, Hamburg und Hannover zum Teil grosse und schwer zu behebende beziehungsweise zu umgehende Engpässe auf.

Den grösstmöglichen Fehler ist man gerade im Begriff, sich in Stuttgart zu leisten. Dort soll ein optimal dimensionierter und (noch) funktionstüchtiger 16gleisiger Kopfbahnhof einem Tiefbahnhof mit gerade einmal der Hälfte der Gleise weichen. Dass dies für einen guten ITF nicht ausreicht, kann man an fünf Fingern abzählen: Für drei einander kreuzende Linien des Fernverkehrs (das heisst sechs Züge, in beiden Richtungen gezählt) und acht Ziele des Regional- und Nahverkehrs braucht man 14 Gleise, dazu zwei als Reserve (für allfällige Störungen, Wartungsarbeiten, Sonderzüge). Dies ergibt zusammen 16 Gleise, also exakt die Kapazität des bestehenden Bahnhofs.

In Stuttgart soll also – im Widerspruch zu allen modernen Infrastruktur-Projekten auf der ganzen Welt – mit einem gigantischen finanziellen Aufwand (zur Zeit 8,4 Milliarden Euro, am Ende wahrscheinlich 10 Milliarden oder mehr) vorhandene Bahnkapazität nicht erweitert, sondern zurückgebaut werden. Damit erweist sich „Stuttgart 21“ neben den anderen bekannten Risiken (wie Schräglage, Brandschutz, Anhydrit oder Überschwemmungen) als eine gigantische, kaum zu heilende Fehlplanung.

Chancen und Defizite der Zielfahrpläne, Lösungsansätze

Die bisher vom BMVI zusammen mit der D-Takt-Offensive veröffentlichten „Zielfahrpläne 2030“ weisen grössere Veränderungen an der bisherigen Fahrplanstruktur auf. Als wichtigste seien genannt:

  • Stärkere Verzahnung von Fern- und Nahverkehr und verbesserte Umsteigebeziehungen an vielen grösseren und mittleren Bahnknoten,
  • Wiederbelebung des Interregio-Verkehrs durch eine neue Zuggattung für den mittleren Fernverkehr (in den Zielfahrplänen „FR“ oder „FV light“ benannt, siehe dazu auch [6]),
  • Einführung des Halbstundentakts auf weiteren (allerdings nicht allen) Fernverkehrsstrecken
Abbildung 2: Vorschlag für einen Fernverkehrs-Knoten in Erfurt. Minuten-Angaben fett: stündlich, Normalschrift: gerade Stunde, kursiv: ungerade Stunde (Zeichnung: W. Hesse).

Dabei ist zu bedenken, dass die Zielfahrpläne zunächst Trassen, aber noch nicht unbedingt später auch real verkehrende Züge festlegen. Dies gilt im besonderen für die neuen Zielfahrpläne [2], die unter anderem erfreuliche Mehrverkehre (zum Beispiel Halbstundentakte) versprechen, aber wohl noch einige (Kosten-)Hürden werden überwinden müssen.

Im Umgang mit den Bausünden der Vergangenheit (siehe Abbildung 2) sind die Zielfahrpläne zum Teil noch wenig befriedigend. Das ist wohl weniger den beauftragten Gutachtern als vielmehr den Vorgaben der Auftraggeber zuzuschreiben. Als zwar nicht immer optimale, aber gangbare „Notlösungen“ für Probleme der oben genannten Art bieten sich folgende Ansätze an:

  1. Mehrere Linien auf der gleichen Strecke nutzen – mit verschiedenen Knotenzeiten, um die Knoten abwechselnd zu bedienen. Am Beispiel der Achse Mannheim – Stuttgart – Ulm – München wurde das in einem früheren Aufsatz näher ausgeführt, vergleiche [4].
  2. Zwei-Stunden-Rhythmus zur Bedienung verschiedener Knoten (wechselweise in Stunde 1 oder 2) nutzen. Zum Beispiel kann man auf der Linie Nürnberg – Erfurt – Halle/Leipzig die Anschlüsse wechselnd in Erfurt und Halle beziehungsweise in Nürnberg und Leipzig herstellen (vergleiche unten).
  3. Neben den schnellen ICE-Linien (die vielleicht mal den einen oder anderen Knoten auslassen müssen) parallele IC- oder IR-Linien einrichten, die die verpassten Knoten mitnehmen. Im Beispiel von Erfurt kann ein IR mit Halt in Coburg und weniger als 90 Minuten Fahrzeit eine Taktlücke füllen.
  4. Richtungsknoten statt Vollknoten: Statt einer einheitlichen Knotenzeit für die Begegnung aller beteiligten Züge werden zwei (oder ausnahmsweise mehr) Knotenzeiten, gültig für jeweils in eine Richtung fahrende, korrespondierende Züge vorgegeben. Beispiel: Hamm/Westfalen (laut Zielfahrplan 2018): (Haupt-)Knotenzeit 15 in Ost-Richtung, 45 in West-Richtung.

Problemfall Nürnberg – Erfurt – Halle/Leipzig

Mit den genannten Strategien lässt sich für diesen Bereich eine fast optimale Lösung finden:

  • Stunde 1: Sprinter München – Berlin mit Knoten in Erfurt (30) und Halle (00), in Nürnberg etwas verfrüht (zirka ab zur Minute 24). Für einen zweistündlichen Sprinter besteht nach den bisherigen positiven Erfahrungen genügend Bedarf, er steht auch so im BMVI-Zielfahrplan 2018.
  • Stunde 2: „Normal-ICE“ mit Knoten in Nürnberg (30) und Leipzig (30), der den Abstand von knapp zwei Stunden zwischen den Knoten nutzt. Dieser ICE hält in Erlangen und Bamberg, erreicht Erfurt in Süd – NordRichtung nach der Knotenzeit (etwa zur Minute 42 … 45), nimmt aber den Anschluss aus Frankfurt/Main auf. Ein zusätzlicher IC/IR aus Nürnberg (00), mit Halt in Coburg erreicht den Knoten Erfurt (30) zur Stunde 2.

Mit dem hier dargestellten Plan liessen sich alle Knoten „retten“. Dies gilt neben Erfurt vor allem auch für Nürnberg und Leipzig, die in den bisherigen Zielfahrplänen weitgehend ausgehebelt werden sollen – mit äusserst ungünstigen Auswirkungen für den Nahverkehr und dessen Korrespondenzen.

Legt man das Angebot der neuesten Zielfahrpläne (2019) zugrunde, so könnte der Sprinter sogar den 30er Knoten in Nürnberg halten und stündlich verkehren. Weiter liesse sich der „Normal-ICE“ über Leipzig zum Stundentakt ergänzen und in einem weiteren Schritt könnte man alle Linien zum Halbstundentakt verdichten. In Erfurt sollte der 30er Knoten zu einem Vollknoten für den Fern- und Nahverkehr ausgebaut und zu gegebener Zeit durch einen 00-(Neben-)Knoten ergänzt werden.

Problemfall Stuttgart – Ulm

Abbildung 3: Im künftigen Bahnhof Stuttgart 21 fehlen Gleise, um die Regionalzüge gleichzeitig neben den Fernzügen abzufertigen oder bereitzustellen (Zeichnung: W. Hesse).

Weit schwieriger stellt sich die Lage im Fall Stuttgart – Ulm dar: Im zukünftigen „Haltepunkt“1 Stuttgart muss ein ITF an der fehlenden Gleiskapazität scheitern. Die durchgebundenen Regionalzüge müssen nacheinander durch die Lücken ge schleust werden, die der Fernverkehr lässt – gegenseitige Anschlüsse sowie die der Nahverkehrszüge untereinander sind mehr oder weniger zufällig.

Die Planer von DB und BMVI verweisen auf den Halbstundentakt, der für die Fernverkehrs-Achse Mannheim – Ulm – München sowie für die meisten Nahverkehrs-Linien versprochen wurde. Er würde die Umsteigezeiten rein statistisch reduzieren und ausserdem ITF-Knoten zur Minute 15/45 ermöglichen. Allerdings knüpfen sich daran einige kritische Fragen:

  • Wird es wirklich auf allen Linien und zu allen Tageszeiten, das heisst bis in die späten Abendstunden und am Wochenende, Halbstundentakte geben? Die bisherigen Erfahrungen sprechen eher dagegen.
  • Wie sollen die Linien eingebunden werden, die nur im Stunden- oder Zweistundentakt verkehren (wie zum Beispiel nach Karlsruhe, Nürnberg und Zürich)?

Dass selbst ein ICE-Halbstundentakt die fehlende Gleiskapazität nicht heilt, zeigen die BMVI-Zielfahrpläne, welche die Prinzipien des ITF bis zur Unkenntlichkeit aushebeln (siehe dazu die Rosette in der Abbildung 4).

Abbildung 4: Der Halbstundentakt verbessert die Lage im nicht systematischen Fahrplan nur beschränkt. Das zeigt die Rosette für Stuttgart 21 laut BMVI-Zielfahrplan [1]. Ankünfte und Abfahrten im Uhrzeigersinn, blau/grün: Fern-/Nahverkehr in West – Ost-Richtung, rot/orange: Fern-/Nahverkehr in Ost – West-Richtung, Zweistundentakte gestrichelt (Zeichnung: W. Hesse).

Ein weiteres (Teil-)Problem stellt der Knoten Ulm dar. Dieser soll mit einem (sehr knapp ausgelegten) 30-Minuten-Abstand an Stuttgart angebunden werden. Damit setzen sich die oben genannten Probleme nach Ulm fort; so bestehen zum Beispiel zwischen den auf Ulm zulaufenden Nahverkehrslinien kaum gegenseitige Anschlüsse (vergleiche [1], darin „Zielfahrplan Baden-Württemberg“).

Sollte man trotz aller bekannten Risiken und Probleme am Weiterbau von Stuttgart 21 festhalten und einen Umstieg weiter ablehnen (vergleiche [5]), wäre die seinerzeit am Ende des Stuttgarter Schlichtungsprozesses ins Spiel gebrachte „Kombi-Lösung“ ernsthaft zu erwägen. Das würde bedeuten, neben einem auf etwa vier Gleise abgespeckten Tiefbahnhof den Kopfbahnhof zu erhalten – vorzugsweise in vollem Umfang. Bei Fortfall je eines Gleises in der Tiefe könnten die Bahnsteige verbreitert und die Zugangswege signifikant verbessert werden.

Erst damit würde das Projekt „Stuttgart 21“ eine echte Kapazitätserweiterung mit sich bringen. Die Stuttgarter „Panoramastrecke“ lässt sich so für den Verkehr aus Singen –Horb und aus der Schweiz erhalten, und die Linie Zürich – Stuttgart – Nürnberg würde „oben“ über den (erhaltenen) Kopfbahnhof laufen. Damit liesse sich dann auch in Stuttgart ein Taktfahrplan etablieren, der sich an dem Schweizer Grundkonzept (vergleiche erste Abbildung) sowie an dem in [4] dargestellten Fahrplan orientiert.

(Höchst-)Geschwindigkeit vor Praktikabilität?

Neben diesen zwei exemplarisch ausgewählten Problembereichen enthalten die Zielfahrpläne weitere Unstimmigkeiten und Diskussionspunkte, die einer detaillierteren Analyse bedürfen. Grundsätzlich zu diskutieren ist jedoch die Frage nach möglicherweise überambitionierten Zielen und Forderungen der D-Takt-Initiative, wie sie vor allem im neuen Gutachterbericht [2] aufscheinen.

Problemfall Hannover – Bielefeld

So wird jetzt eine Schnellfahrstrecke Hannover – Bielefeld mit einer Zielfahrzeit von 30 Minuten propagiert. Eine so knappe Vorgabe würde für die 110 km lange, vielleicht auf 100 km verkürzbare Strecke bei Abzug der halben Knoten-Haltezeiten (zwei für Hannover, eine für Bielefeld) und zwei Minuten Pufferzeit eine tatsächliche Fahrzeit von 25 Minuten und damit eine Durchschnittsgeschwindigkeit von über 240 km/h bedeuten – ein bisher nur in Japan und Frankreich auf Langstrecken erreichter Spitzenwert2 . Dagegen wäre eine massvolle Beschleunigung auf zirka 42 Minuten Fahrzeit sinnvoll, was sich besonders dann zeigt, wenn man die Situation im Knoten Hannover mit in die Betrachtung einbezieht.

Hannover ist einer der am meisten frequentierten Bahnhöfe in Deutschland und dazu ein Eisenbahn-Drehkreuz par excellence. Hier kreuzen sich die Magistralen Berlin – Köln / Amsterdam und Hamburg – Frankfurt (M) / München. Mit zwölf Bahnsteigs- und zwei Durchgangsgleisen stösst der Bahnhof schon heute an seine Kapazitätsgrenzen.

Die Zielfahrpläne 2018 weisen einen Fahrplanknoten gemäss der ersten Abbildung mit Hauptknotenzeit 30 und Nebenknotenzeit 00 aus. Das sieht auf den ersten, theoretischen Blick gut aus, erweist sich jedoch in der Praxis als problembehaftet. So lassen sich enge Anschlüsse mit drei oder vier Minuten Übergangszeit wie Bielefeld – Kassel ( – München) oder Wolfsburg – Hamburg praktisch nicht erreichen und führen letztlich zu langen Umsteigezeiten. Nahverkehrszüge wie die in Richtung Bremen oder Peine – Braunschweig fahren (wegen der begrenzten Kapazitäten) ausserhalb der Knotenzeiten – damit fällt die Knotenwirkung in vielen Relationen praktisch weg.

Abbildung 5: Vorschlag für einen Doppel-Knoten in Hannover (Zeichnung: W. Hesse).

Hier ist es an der Zeit, über unkonventionelle Lösungen nachzudenken: Eine solche besteht darin, in Hannover einen „Doppel-Knoten“ einzurichten. Unter der Voraussetzung, dass (fast) alle Linien im Halbstundentakt verkehren, ergeben sich potentielle Fahrplanknoten sowohl zur Minute 00/30 als auch zu 15/45. In Hannover könnte man den Nord – Süd (Nah- und Fern-) Verkehr zur Knotenzeit 00/30 und diejenigen in Ost – West-Richtung zur Knotenzeit 15/45 bündeln – vergleiche Abbildung 5. Ein solcher Ansatz verspricht folgende Vorteile:

  • Für die Umsteigebeziehungen in gleicher (N/S- oder O/W-)Richtung können bahnsteiggleiche oder benachbarte Lagen mit kurzen Umsteigezeiten genutzt werden.
  • Für das Umsteigen zwischen den Richtungen N/S und O/W (mit grösseren Bahnsteig-Entfernungen) gilt eine „entspannte“ Umsteigezeit von mindestens 15 Minuten.
  • Zu den vier Knotenzeiten 15/45 und 30/00 können doppelt so viele Gleiskapazitäten genutzt werden wie im Falle eines einfachen Knotens 00/30 für alle Richtungen.
  • Im speziellen Fall Hannover passt die 15/45-Lage des O/W-Knotens besonders gut zu den benachbarten Knoten Bielefeld (00), Osnabrück (30) und Berlin Hbf (00/30). Eine „auf Kante genähte“ und unverhältnismässig teure Schnellstrecke nach Bielefeld erübrigt sich, Baukosten in Milliardenhöhe können eingespart werden.
  • Die „Diagonalstrecke“ nach Bremen lässt sich – mit dreimaliger Fernverkehrs-Bedienung innerhalb von zwei Stunden – sehr gut mit beiden Richtungen (N/S und O/W) verknüpfen.

Dem steht als einziger Nachteil die etwas längere Fahrzeit auf der O/W-Relation (zum Beispiel Berlin – Köln in 4:06 statt knapp unter 4 Stunden) gegenüber. Die Abweichung vom „hehren Prinzip“ des Integralen Taktfahrplans sollte demgegenüber weniger ins Gewicht fallen – allerdings sollte sie nur dann toleriert werden, wenn die Grundannahme Halbstundentakt auf (fast) allen Linien und auch zu Abend- und Wochenendzeiten gegeben ist.

Ansatzweise steckt eine ähnliche Idee auch im neuen Zielfahrplan [2]. Allerdings betrifft sie nur den um eine Viertelstunde verlegten ICE Frankfurt – Hannover – Hamburg, schafft einen „Wackeltakt“ zwischen Fulda und Hamburg, und in Hannover sind die Taktzeiten für den N/S- und O/W-Verkehr vertauscht, was zu ungünstigen Zeitlagen der benachbarten Knoten beziehungsweise zu extrem teuren Ausbaumassnahmen führt.

Übrigens: Die oben skizzierte Lösung für Hannover könnte auch zum Vorbild für einen Fahrplanknoten Berlin Hbf – hier mit Knotenzeit 00/30 in O/W- und 15/45 in N/S-Richtung – werden.

Im Zusammenhang mit zu hoch gesteckten Zielen ist auch die Forderung nach einer Neubaustrecke Würzburg – Nürnberg zu betrachten. Dort ist jetzt ebenfalls eine Fahrzeitverkürzung auf zirka 30 Minuten geplant.

(Un-)Problemfall Würzburg – Nürnberg

Erst in den 1980/1990er Jahren wurde die 102 km lange Strecke ertüchtigt und auf die heutige Fahrzeit von 52 Minuten ausgelegt. Diese ist in zweifacher Hinsicht ideal:

  1. Die benachbarten Abschnitte der Fernverbindung Hamburg – München von Kassel und Fulda beziehungsweise nach Ingolstadt sind sehr knapp ausgelegt, was dem dazwischen liegenden Abschnitt Würzburg – Nürnberg eine gewisse Pufferwirkung verleiht und damit Verspätungen aufzufangen hilft.
  2. Dieser Abschnitt muss „gebündelten“ Verkehr, das heisst Züge der parallel laufenden Linie Frankfurt(M) – Passau – Wien (mit gegenseitigen Korrespondenzen), aufnehmen, was ein vergrössertes Zeitfenster erfordert.

Bei einer auf 30 Minuten ausgelegten, wie im Falle Bielefeld – Hannover äusserst knapp bemessenen Fahrzeit würden die oben angeführten Vorteile notwendigerweise entfallen: Die stimmigen, seit fast 30 Jahren gut funktionierenden Knoten Fulda und Kassel-Wilhelmshöhe würden ausgehebelt, und die wichtige Ost – West-Verbindung Frankfurt (M) – Passau – Wien würde ganz aus dem ITF-Schema herausfallen – mit entsprechend verlängerten Umsteigezeiten. Dies wird durch die jüngsten Zielfahrpläne bestätigt (siehe [2]).

Im Sinne eines praktikablen, auch bei geringfügigen Verspätungen noch funktionierenden und (mit seiner Infrastruktur) bezahlbaren Fahrplans ist also dringend davor zu warnen, mit hohem Milliardenaufwand fragwürdige „auf Kante genähte“ Fahrzeitverkürzungen zu erzwingen, dabei die oben genannten Vorteile zu vergeben und sich stattdessen Quellen künftiger Verspätungen einzuhandeln.

Probleme von „Y-Trassen“

In diese Problem-Kategorie gehören auch die sogenannten Y-Trassen, das heisst die gleichzeitige Nutzung längerer Schnellfahr-Streckenabschnitte durch Züge mit gemeinsamem Ursprung oder Ziel. Ein Beispiel dafür ist das oft diskutierte „Y“ zwischen Hannover, Bremen und Hamburg, ein weiteres das „Y“ zwischen Frankfurt/Main, Fulda und Würzburg, die sogenannte Mottgers-Spange.

So sehr sich die gemeinsame Nutzung aus blossen Kostengründen lohnen mag, so abträglich ist sie  dem ITF auf diesen fast immer nur zweigleisigen Strecken, denn auf einem Gleis können die Züge nur im Blockabstand von mindestens zwei bis drei Minuten verkehren, was die Haltezeiten in den Knoten und damit die Gesamtfahrzeit beträchtlich verlängert. Gleiswechselbetrieb, das heisst gleichzeitiges Ein- und Ausfahren auf beiden Gleisen, ist aus betrieblichen Gründen problematisch und wird daher fahrplanmässig kaum praktiziert.

Fazit

Der Deutschland-Takt sollte ernst genommen werden – mit Priorität für Verlässlichkeit und Pünktlichkeit.

Die Ankündigungen zum D-Takt und die bisher veröffentlichten Zielfahrpläne haben ein lange überfälliges positives Signal gesetzt. Sie enthalten viele zukunftsweisende Ansätze für mehr und besseren Bahnverkehr in Deutschland. Allerdings ist ihre Realisierung damit noch nicht gesichert und diese wird weiterer grosser Anstrengungen und Finanzierungsmittel bedürfen. Dabei sollten die Ziele bessere landesweite Vernetzung von Fern- und Nahverkehr sowie letztlich aller ÖV-Angebote, optimierte Reiseketten, Verlässlichkeit und Pünktlichkeit Vorrang vor singulären Prestige-Projekten und spektakulären Hochgeschwindigkeits-Insellösungen erhalten.

In ihrer gegenwärtigen Form weisen die Zielfahrpläne noch Defizite und Ungereimtheiten auf, einige davon wurden oben angesprochen. Grundsätzlich ist vor überambitionierten, zu knapp bemessenen Fahrzeitverkürzungs-Projekten zu warnen, mit denen unvermeidliche Knotenverzerrungen, suboptimale Fahrpläne, gravierende Störanfälligkeiten und Unpünktlichkeits-Herde geradezu vorprogrammiert werden. Das betrifft neben den genannten Strecken Hannover – Bielefeld und Nürnberg – Würzburg zum Beispiel auch die Strecken Stuttgart – Ulm, Hanau – Fulda, Frankfurt – Würzburg, Frankfurt – Mannheim (via Tunnel). Werden die Fahrzeiten hier zu knapp geplant und notwendige Pufferzeiten vernachlässigt, führt dies in den beteiligten Knoten unweigerlich zu längeren Haltezeiten der querenden Nahverkehrslinien und zu Störungen; Verspätungen pflanzen sich in die Nahverkehrsnetze fort.

Überhaupt scheint man nach wie vor publicityträchtigen Prestige-Projekten mit Schnellfahrtrassen und Tunnelbahnhöfen höhere Aufmerksamkeit zu widmen als den dringend notwendigen Ausbauten an den Zuläufen zu den Bahnknoten, die oft zu effektiveren Fahrzeitverkürzungen führen können.  Auf die Defizite bei einigen wichtigen Bahnknoten und das gerade entstehende Nadelöhr in Stuttgart wurde oben hingewiesen.

Nach den eher negativen Erfahrungen der Vergangenheit könnte damit der Eindruck entstehen, dass der wohlklingende Begriff „Deutschland-Takt“ womöglich für ein Weiterwursteln in bekannter Manier herhalten soll: Streckenneubau- und Bahnhofsprojekte könnten wie bisher vorrangig aus politischen Motiven wie Politiker-Selbstdarstellung, Tunnel- und Beton-Lobby-Stützung, Immobilienverwertung in Innenstadtbereichen geplant, mit dem Etikett „D-Takt“ versehen und als Beiträge dazu „verkauft“ werden – ein Vorgehen, dass sich schlimmstenfalls für die gesamte Initiative als kontraproduktiv erweisen könnte.

Um diesen Verdacht zu entkräften, sollte das Vorhaben „Deutschland-Takt“ weiter konkretisiert, ernsthaft verfolgt und mit den notwendigen Mitteln ausgestattet werden. Die Zielfahrpläne bedürfen dabei noch einer gründ lichen Revision, um dem Deutschland-Takt zu einem wirksamen, nachhaltigen Erfolg zu verhelfen.

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Literaturhinweise

[1] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI): Infrastruktur für einen Deutschland-Takt im Schienenverkehr. https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/G/BVWP/bundesverkehrswegeplan-2030-deutschlandtakt.html

[2] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI): Erste Ergebnisse des Zukunftsbündnis Schiene. https://www.bmvi.de/Shared-Docs/DE/Artikel/E/zukunftsbuendnis-schiene.html

[3] Bodack, Karl-Dieter: Interregio – die abenteuerliche Geschichte eines beliebten Zugsystems. Freiburg 2005

[4] Hesse, Wolfgang: Stuttgart: Nullknoten ist möglich – Betriebskonzepte und Integraler Taktfahr-plan in der Diskussion. Eisenbahn-Revue International 3/2011, S. 150 – 152, und: https://bahn-fuer-alle.de/wp-content/uploads/2020/11/Stg21ERI.pdf

[5] Umstieg 21. Baustellen umnutzen! Konzept der Arbeitsgruppe „Umstieg 21.“
https://www.umstieg-21.de/broschuere.html

[6] Weigand, Werner: Der Markt zwischen Fern- und Nahverkehr – eine Herausforderung für den Deutschland-Takt. Eisenbahn-Revue International 1/2019, S. 45 – 49

Fußnoten

1 – Der neue Tiefbahnhof Stuttgart wurde vom EBA als „Haltepunkt“ eingestuft, um seine fünffach überhöhte Längsneigung (15 Promille statt der für Bahnhöfe empfohlenen 2,5 Promille) zu rechtfertigen.

2 – Zum Vergleich: Bei der Hochgeschwindigkeitsstrecke Madrid – Sevilla beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit 209 km/h. In Deutschland lag 2014 der höchste Wert für eine Punkt-zu-Punkt-Verbindung (Frankfurt/Main-Flughafen – Siegburg/Bonn bei 226,3 km/h. Im Falle Bielefeld – Hannover würden zudem 40 km bis Porta Westfalica und 11 km ab Seelze auf konventionellen Gleisen verlaufen. Quelle: https://www.hochgeschwindigkeitszuege.com/news-und-infos/ice-gegen-tgv-und-shinkansen.php. Stand: 25. März 2019