Der deutschen Bahnchef muss gehen – Öffnung für eine fahrgastfreudliche Neuorientierung der Bahn
von Winfried Wolf
Er sei „kein Handtuchwerfer“, ließ der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, mehrfach verlauten. Am 30. März 2009, dem Tag, an dem er eigentlich in erster Linie neue Erfolgszahlen aus dem Bereich der kreativen Buchführung feiern lassen wollte, musste er doch seinen Rücktritt anbieten. Als Vorwand dient die flächendeckende Bespitzelung, die es im Mehdornschen Bahnimperium gab. Der entscheidende Grund für den Sturz des deutschen Bahnchefs ist allerdings das Scheitern des Bahnbörsengangs: Februar/März 2009 war das letzte Zeitfenster, in dem die Bahn auf Basis des 600-seitigen Börsenprospektes vom September 2008 hätte verkauft werden können. Mit der für den 30. März 2009 angekündigten Vorlage der 2008er Bilanz wurde dieser Prospekt Makulatur. Neue, deutlich schlechtere Zahlen müssten nun in ein Börsenprospekt-Zahlenwerk eingespeist werden.
Der entscheidende Grund für den Abgang des Bahnchefs und die tatsächliche Bilanz seines Wirkens drohen allerdings von einer Kakophonie mit drei Strophen übertönt zu werden:
Deren erste Strophe lautet: „Herr M. hat lediglich überzogen“. Es sei bei dem „Datenscreening“ vor allem um den Kampf gegen Korruption und den berechtigten Schutz von Unternehmensinteressen gegangen. In der „Welt“ vom 31. März heißt es dazu: „Hier (bei der Kritik an dem E-Mail-Spitzelskandal; W.W.) handelt es sich um den legitimen informationellen Selbstschutz eines Unternehmens, was unter Generalverdacht gestellt wird. Auch das ist eine kleine Enteignung. Unternehmen haben es schwer in unserem Land.“
Tatsächlich hat der Bahnchef bis zu 180.000 Bahnbeschäftigte flächendeckend bespitzeln lassen. Die verschärften Maßnahmen zur Überwachung des E-Mail-Verkehrs wurde im Februar 2005 beschlossen, exakt zu dem Zeitpunkt, als bahnintern der Kurs an die Börse beschleunigt und das Bündnis Bahn für Alle gegen den Bahnbörsengang gegründet wurden. Dabei stand im Zentrum die Überwachung des Mailverkehrs der Bahnbeschäftigten mit „zunächst einem Dutzend Verkehrsexperten“ (Süddeutsche Zeitung vom 30.3.). Es ging also bei der Überwachung des E-Mail-Verkehrs längst nicht mehr um Korruption. Wenn die deutsche Bundesregierung die Maßnahmen des Herrn M. nur „überzogen“ findet, dann aus einem guten Grund: Mehdorn ließ laut bisherigem Ermittlungsstand nur kontrollieren, was aus den PCs der Bahnbeschäftigten und hier aus denen in den Bahn-Büros herausging. Der deutsche Bundesinnenminister und die CDU-CSU-SPD-Regierung wollen die gesetzliche Basis dafür schaffen, um zu kontrollieren, was in den PCs der Bundesbürger drin ist – und das in den persönlichen Geräten der Bürger und Bürgerinnen zu Hause.
Kakophonie-Strophe 2 lautet: „Herr M. hat ein effizientes Unternehmen aufgebaut“. Das ist eine Mär und Herr M. schlicht und einfach ein genialer Lügenbaron.
Greifen wir aus Platzgründen nur zwei Aspekte aus dem realen Zahlenwerk heraus. Zunächst das Beispiel Infrastruktur und grundlegendes Angebot: Allein im Zeitraum der Regentschaft des Herrn M. wurde die Netzlänge der Bahn von 37.500 km (Ende 1999) auf 33.900 km (Ende 2007) oder um 3600 km abgebaut. Mehr als 1000 Bahnhöfe wurden verkauft. Die nach Fahrgästen beliebteste Zuggattung, der InterRegio, wurde ersatzlos abgeschafft. Allein durch Letzteres wurden Dutzende große Städte vom Schienenfernverkehr abgehängt.
Sodann das Herzstücks der DB AG, der Fernverkehr (überwiegend ICE-Verkehr). 2000 lag die Verkehrsleistung in diesem Segment bei 36,2 Milliarden Personenkilometern (Pkm). 2007 waren es 34,2 Milliarden Pkm (aktuellste Ausgabe von „Verkehr in Zahlen 2008/2009“, herausgegeben vom Berliner Bundesverkehrsministerium). Dieser leichte Rückgang, der gegebenenfalls noch als Stagnation durchgehen kann, muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass in dem genannten Zeitraum mehr als 35 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur investiert wurden, überwiegend in den Bereich des Fernverkehrs und fast ausschließlich in Form öffentlicher Mittel. Es gilt die Formel: Stillstand trotz Superinvestition.
Die verbesserten Bilanzzahlen der DB AG kommen durch verstärkte Arbeitsauspressung aus den Noch-Beschäftigten, durch Belegschaftsabbau, durch Fahren auf Verschleiß und durch Ausverkauf von Betriebsvermögen zustande. So wurde offensichtlich eine große Zahl der ICE-Einheiten via Cross-Border-Leasing in die USA verkauft. Ein großer Teil der Radsatzwellen der modernsten ICE-Züge (der „ICE-3“ und der „ICE-T“) sind nicht „dauerfest“, das heißt, sie können brechen (wie dies am 9. Juli 2008 bei einem ICE-3 in Köln, glücklicherweise im Schrittempo, passierte). Der Vorstand der DB AG hatte von dieser Tatsache seit 2006 Kenntnis, doch er unternahm bisher mit Blick auf den Bahnbörsengang alles, nicht die (teuren) Konsequenzen ziehen zu müssen.
Die Kakophonie wird abgerundet durch Strophe drei: „Der Bahnbörsengang muss auch das Herzensanliegen des Mehdorn-Nachfolgers sein.“ Schon lamentiert Michael Bauchmüller von der „Süddeutschen Zeitung“: „Ein Zurück in die Zeit (der Staatsbahn) darf es nicht geben. Der Bund sollte an einer Privatisierung des Verkehrs auf der Schiene festhalten.“ Man brauche „einen Bahnchef, der wie ein Unternehmer handeln kann“.
Warum wird dieser Unsinn geschrieben? Noch nie in 180 Jahren Eisenbahngeschichte gab es ein erfolgreiches privat-kapitalistisches Eisenbahnsystem. Und wir sprechen hier von einem Netz und nicht von einzelnen privat betriebenen Strecken oder Teilnetzen. Noch nie gab es ein erfolgreiches Modell einer Trennung von (staatlicher) Infrastruktur und (privatem) Betrieb. In Großbritannien haben sich mit diesem Modell (die Infrastruktur ist seit 2001 staatlich, der Betrieb seit 1996 privat!) die öffentlichen Gelder für die Schiene verdreifacht. Der Flickenteppich bei Fahrplänen und Tarifen ist enorm, die Betriebssicherheit systemisch gefährdet.
Sicher ist nun von Interesse, wer neuer deutscher Bahnchef wird. Kommt dieser aus dem bisherigen Management (genannt werden der Fernverkehrschef Breuel und der Güterbereichschef Bensel) , dann könnte ein solcher Herr schnell von der zitierten und mit zu verantwortenden Negativ-Bilanz eingeholt werden. Sollte der aktuelle SBB-Chef Andreas Meyer das Rennen machen, dann ist hier von Interesse, dass es noch heute bei der DB AG heißt, Meyer sei „ein ureigenes Gewächs der Deutschen Bahn“, mitunter ein Börsenbahner.
In jedem Fall wird es erforderlich sein, den Widerstand gegen die deutsche Bahnprivatisierung, der ausgesprochen erfolgreich war und de auch zum Sturz des Börsenbahnchefs Mehdorn beitrug, weiter zu entwickeln. Wichtig ist jetzt in diesen Wochen einer gewissen Offenheit hinsichtlich der Debatte zur Zukunft der Bahn, konkrete Vorschläge für eine Neuorientierung zu entwickeln.
Winfried Wolf ist Chefredakteur von „Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik de globalen Ökonomie“