Ausstieg aus der Autogesellschaft — Verkehrswende und Umstieg – JETZT
Ein Sieben-Punkte-Sofortprogramm von Bahn für Alle
Der systematische Betrug der Autokonzerne bei den Diesel-Motoren hat eine breite Debatte über die Zukunft der Mobilität von Personen und den Transport von Gütern ausgelöst. Diese Grundsatzdiskussion ist vor allem deshalb erforderlich, weil die Klimaerwärmung und ihre katastrophalen Folgen immer deutlicher zu erkennen sind. Dabei sind der Straßen- und der Luftverkehr für rund ein Viertel der für die Klimaerwärmung relevanten Emissionen verantwortlich. Tendenz deutlich steigend.
Notwendig ist deshalb eine Politik der Verkehrswende, die in enger Verbindung mit der Energiewende steht. Im Zentrum der neu ausgerichteten Verkehrspolitik müssen die Menschen, die Umwelt und das Klima stehen. Wir brauchen die grundsätzliche Abkehr von fossilen Energieträgern im Bereich Verkehr und Transport. Oberstes Ziel sollte sein, dass der heute vielfach existierende strukturelle Zwang, ein Auto für die individuelle Mobilität zu nutzen, beseitigt wird. Jeder, der dies wünscht, soll seine individuelle Mobilität ohne einen eigenen Pkw – und möglichst ganz ohne Auto – realisieren können. Bahn für Alle fordert die politischen Parteien auf, mit Hilfe der folgenden sieben Punkte die Verkehrswende einzuleiten.
1. Die Strukturpolitik der kurzen Wege
Erforderlich ist eine systematische Strukturpolitik der kurzen Wege. Gefördert werden muss Dezentralität in den Bereichen Einkaufen, Kitas, Schulen, im Gesundheits- und Verwaltungsbereich. Neue Zentralisierungen von Verwaltungseinheiten („Kreisreformen”) sind abzulehnen, da mit Verkehrsinflation und Demokratieabbau verbunden. Im Bereich des Städtebaus wird die fortschreitende Zersiedelung gestoppt. Innenstädte müssen wieder bezahlbar sein. Die Subvention langer Arbeitswege wird umgewidmet in eine Förderung der Nähe von Wohnen und Arbeit.
2. Systematische Förderung des nichtmotorisierten Verkehrs
Diese „Politik der kurzen Wege“ ist zugleich eine entscheidende Förderung für den Fußgänger- und Fahrradverkehr. Die Anteile dieser nichtmotorisierten Verkehrsarten an allen Wegen (also am „Modal split“) können verdoppelt werden. In den Städten sollten – nach den Vorbildern in den Niederlanden und in Dänemark – die Fahrradwege in Form von Radstreifen in die Straßen integriert werden. Erforderlich sind dafür die Einstellung aller Subventionen für den Straßen- und den Flugverkehr (Diesel- und Kerosinbesteuerung; dazu eine massive Anhebung der Lkw-Maut). Es gibt keinen neuen Straßenbau, keine neuen Landebahnen und keine neuen Airports. Bei Straße und Luftverkehr kommt es zu einem ersten infrastrukturellen Rückbau beziehungsweise zu Umwidmungen.
3. Umfassender Ausbau des öffentlichen Verkehrs
Notwendig ist umfassender Ausbau aller Formen des öffentlichen Verkehrs. Im öffentlichen Nahverkehr ist ebenfalls eine Verdopplung des Modal-split-Anteils das Ziel. Dabei sollten vor allem oberirdisch geführte und schienengebundene Verkehrsmittel gefördert werden. Unterirdisch geführte Bahnen sind nur noch dort sinnvoll, wo dies baulich absolut unabänderlich ist. Busse sollten so weit wie möglich als Oberleitungsbusse verkehren (in einigen Fällen als Busse mit Akkubetrieb oder mit ergänzendem Akkubetrieb). Carsharing mit E-Pkw und Sammeltaxen – letztere auch verstärkt in ländlichen Bereichen – runden diesen Programmpunkt ab. Es gelten deutliche Tempolimits (120 km/h auf Autobahnen und 30 km/h in Städten und Wohngebieten. Busse und Bahnen werden durch Vorrangschaltungen beschleunigt.
4. Flächenbahn und Bürgerbahn
Ziel ist eine Flächen- und Bürgerbahn: Ein Schienenverkehr, der in der gesamten Fläche des Landes präsent ist, in dem Nah-, Regional- und Fernverkehr gut vertaktet sind und der sich unter öffentlicher, dabei dezentraler und bürgernaher Kontrolle befindet. Im Fernverkehr wird die Orientierung auf einzelne Hochgeschwindigkeitsstrecken beendet. Oberstes Ziel ist die Verwirklichung des Integralen Taktfahrplans als Halbstundentakt auf den wichtigen Verbindungen („Deutschland-Takt“).
Dafür ist der Ausbau des Schienennetzes mindestens auf Stand von 1990 erforderlich (rund 10.000 km neue – meist reaktivierte – Schienenstrecken), womit das Schienennetz wieder eine Betriebslänge von gut 45.000 km erhält. Insbesondere muss das Schienennetz in den Bereichen Weichen, Ausweichgleise und Gleisanschlüssen so ausgebaut und verstärkt werden, dass der Stand von 1996 wieder erreicht wird (was eine Verdopplung bei Weichen und Ausweichgleisen und eine Verfünffachung der Gleisanschlüsse erfordert).
Eine besondere Bedeutung erhält die umfassende Elektrifizierung der Schiene – bis auf Stichstrecken sollte das Schienennetz zu 100 Prozent elektrifiziert werden (wie dies in der Schweiz schon seit Jahrzehnten der Fall ist).
Die Nachtzüge und der Autoreisezug werden wieder eingeführt. Zusammen mit den Eisenbahnen der Nachbarländer wird ein europaweites Nachtzugverkehrsnetz aufgebaut. Das Ziel dabei ist, den größten Teil der Flüge im Bereich bis zu 1500 km auf die Schiene zu verlagern.
Die Struktur der Schienenunternehmen sollte grundsätzlich öffentlich, bürgernah und dezentral sein. Anstelle einer Gewinnorientierung muss als oberstes Ziel gelten, Verkehr auf die Schiene zu verlagern und einen optimalen Service für die Fahrgäste zu bieten. Notwendig sind dafür neue Strukturen (Unternehmensformen) für die Schienenverkehrsunternehmen und die Einrichtung von demokratischen Kontroll- und Steuerungsgremien. Die Auslandsengagements der Deutschen Bahn AG werden komplett verkauft, womit eine Konzentration auf das Kerngeschäft, den Schienenverkehr in Deutschland, erfolgt. Insbesondere darf die Schieneninfrastruktur (Netz) nicht mehr der Gewinnorientierung unterworfen sein. Die Entgelte für die Nutzung von Trassen und Bahnhöfen werden halbiert.
5. Unsinnige Großprojekte stoppen
Bislang fließt ein erheblicher Teil der öffentlichen Gelder im Verkehrssektor in zerstörerische oder unnötige Großprojekte. Wir fordern den Stopp solcher Projekte – aktuell den Stopp von Stuttgart 21. Stattdessen sollen die bislang getätigten S21-Investitionen so umgenutzt werden, wie im Programm „Umbau21“ ausgeführt. Wir lehnen – gemeinsam mit den Initiativen vor Ort – die geplante Fehmarnbelt-Querung ab. Wir unterstützen alle, die sich gegen Fluglärm, für Nachtflugverbote und gegen neue Start- und Landebahnen oder gegen meist hoch subventionierte Regionalairports engagieren.
6. Für ein transparentes Tarifsystem – für einen preiswerten öffentlichen Nah- und Fernverkehr – für Nulltarif-Modelle
Grundsätzlich erforderlich ist die Umsetzung eines völlig neuen, einfachen und transparenten Systems der Tarife im öffentlichen Verkehr, besonders bei der Deutschen Bahn AG. Notwendig ist darüber hinaus eine allgemeine Reduktion der Tarife im öffentlichen Verkehr (ÖPNV und Schiene insgesamt) um mindestens ein Drittel. Die Preise für die Mobilitätskarten (BahnCard 50 und 100, Monatskarten) sollten halbiert werden. Modelle mit „Nulltarif“ müssen in ersten Modellregionen erprobt werden. Junge Erwachsene dürfen die öffentlichen Verkehrsmittel in ihrem 19. Lebensjahr kostenfrei nutzen, um eigene Alternativen zu Auto und Führerschein erkunden zu können.
7. Den Güterverkehr drastisch reduzieren – den verbleibenden Güterverkehr auf Schiene und Binnenschiff verlagern
Der Güterverkehr stieg insgesamt zwischen 1993 und 2016 um 75 Prozent; der Straßengüterverkehr hat sich verdoppelt. Er soll laut offizieller Verkehrspolitik weiter massiv wachsen. Diese Transportinflation ist vor allem einer mit der Globalisierung absurd gestiegenen Transportintensität geschuldet: Immer mehr Transportkilometer stecken in einer Ware von ein und derselben Qualität.
Durch ein Bündel von Maßnahmen (höhere Lkw-Besteuerung; Beschränkung der Lkw-Größen, keine „Gigaliner“, Nachtfahrverbote und anderes mehr) ist eine Rückführung der Transporte insgesamt auf mindestens das Niveau von Anfang der 1990er Jahre und der Lkw-Transporte auf maximal ein Drittel des aktuellen Niveaus erforderlich. Erst in einem solchen Rahmen kann eine Verlagerung von verbleibenden Transporten auf Schiene und Binnenschiffe erfolgen. Alle anderen Szenarien sind mit nicht akzeptablen Belastungen – zum Beispiel mit noch mehr Schallemissionen – verbunden.
Gegen ein solches Sieben-Punkte-Programm gibt es drei Standardeinwände: es sei „zu teuer“; es würden „800.000 Autoarbeitsplätze gefährdet“; dafür gebe es „keine Mehrheiten“.
Finanzen: Grundsätzlich ist – außer punktuellen Startfinanzierungen – für die Umsetzung des Sieben-Punkte-Programms kein zusätzliches Geld erforderlich. Es geht vielmehr um umfassende Umschichtungen. Die realen Kosten des Straßen- und des Luftverkehrs sind extrem hoch und werden auf fünf bis acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes geschätzt. Diese Kosten werden im Rahmen der Umsetzung der Verkehrswende gegen Null gesenkt. Allein ein Verkauf der Auslandsengagements der Deutschen Bahn AG, der Stopp von Stuttgart 21, ein Verzicht auf die Fehmarnbeltquerung und ein Stopp des Ausbaus von Flughäfen brächte beim aktuellen Stand eine Ersparnis von 20 bis 25 Milliarden Euro, womit man die umfassende Elektrifizierung des Schienennetzes und dessen Ausbau finanzieren könnte.
Arbeitsplätze: Seit 1994 wurden allein im Bereich der Eisenbahn, der Bahntechnik und des ÖPNV mehr als 350.000 Arbeitsplätze zerstört. Anstelle des erforderlichen Aufschreis feierte die Politik dies als „Einsparungen“. In der Autoindustrie sind es sodann die Konzerne selbst, die die Jobs in Frage stellen. Die Autostadt Bochum ist bereits Geschichte. Die Autostadt Rüsselsheim dürfte bald Vergangenheit sein. Das Beispiel der Autostadt-Ruine Detroit zeigt: Es könnte eine Frage der Zeit sein, bis auch in Wolfsburg, Ingolstadt oder Stuttgart Hunderttausende Jobs durch Roboter oder Industrieabwanderung nach China gefährdet sind.Die in der Autoindustrie und im Straßenbau getätigten Investitionen sind „kapitalintensiv“: Eine Einheit eingesetztes Kapital „beschäftigt“ viel Maschinerie und erhält wenig Arbeitsplätze. Das hier skizzierte Sieben-Punkte-Programm besteht hingegen vor allem aus „arbeitsintensiven“ Investitionen: Es schafft mit demselben Geld rund eine Million neue Arbeitsplätze.
Mehrheiten: Eine Mehrheit in der Bevölkerung weiß um die Dramatik der Klimaveränderung. Sie ist offen für eine Verkehrswende-Debatte. So gibt es seit Jahrzehnten deutliche Mehrheiten für Tempolimits. In einer Stadt wie Berlin hat auch heute noch die Mehrheit der Haushalte kein Auto. In Hamburg sind es 40 Prozent. Bei den jungen Menschen in Nordamerika, Japan und Westeuropa gibt es seit mehr als 15 Jahren eine weitreichende Umorientierung. Das eigene Auto hat erheblich an Wertschätzung verloren.
Aktuell kommt es darauf an, durch ein konkretes, überzeugendes Programm die Menschen für die Verkehrswende zu gewinnen. Bahn für Alle appelliert an die Parteien und die Verkehrs- und Umweltverbände: Engagieren wir uns zusammen für eine Politik der wirklichen Verkehrswende.