Aus dem Schienen-Alltag 2017/18: Rastatt als Super-GAU und die Lehre für Stuttgart
Samstag, 12. August 2017, 11.03 Uhr: In der Nähe von Rastatt in Baden sackt der Schienenstrang der Rheintalbahn um bis zu einen halben Meter ab. Hintergrund ist der längst überfällig Ausbau dieser wichtigsten Bahnstrecke durch Deutschland, auf der täglich hunderte von Personen- und Güterzügen verkehren. Gemäß der Vereinbarung mit der Schweiz, die unter anderem den Gotthard-Basistunnel als Teil der Alpentransversale rechtzeitig fertiggestellt hat, sollte die wichtige Zulaufstrecke in Deutschland schon seit Jahren durchgehend viergleisig ausgebaut sein. Bei den Bauarbeiten für einen Bahntunnel, der die beiden neuen Gleise aufnehmen soll, kam es dann aber zum GAU: Die Tunneldecke brach ein; Geröllmassen und Wasser stürzten in den Bau. In letzter Minute konnten die Züge auf der absackenden Strecke gestoppt werden. Eine Eisenbahnkatastrophe mit Zugentgleisung war im Bereich des Möglichen, wenn ein Stoppen der Züge nicht mehr rechtzeitig möglich gewesen wäre.
Inzwischen sind die Hohlräume mit Beton verfüllt, so dass die Strecke nach sieben Wochen Sperrung wieder freigegeben werden konnte. Die Bauarbeiten der neuen Trasse sind dadurch jedoch wiederum um Jahre zurückgeworfen worden. Teil der Füllmasse ist die 18 Millionen Euro teure Tunnelbohrmaschine, die nicht mehr evakuiert werden konnte.
Die Ursache des Tunneleinbruchs ist noch nicht völlig geklärt. Bemerkenswert ist jedoch, dass die DB AG das Verfahren mit einer besonders großflächigen Vereisung des Bodens unter der bestehenden Strecke bei nur sehr geringem Abstand zwischen dem neuen Tunnel und dem bestehenden Gleis erst als revolutionäres, neues Tunnelbauverfahren pries – und sich dann nach dem Unglück bemühte, das Verfahren als gut erprobt hinzustellen. Es sei eben zu einem bedauerlichen Unfall gekommen. Tatsächlich scheinen bei dem gewählten Bauverfahren für den Tunnel erhebliche Risiken in Kauf genommen worden zu sein.
Aufgrund der Totalsperrung wurden über Wochen täglich 20.000 Fahrgäste mit Bussen hin- und hergekarrt und mussten erheblich längere Fahrzeiten in Kauf nehmen. 200 Güterzüge pro Tag mussten riesige Umwege fahren. Viele fuhren erst gar nicht, so wie auch ein NightJet der ÖBB und ein privater Autoreisezug. Es handelt sich um die folgenreichste Vollsperrung des Schienenverkehrs seit Jahrzehnten. Dutzende Unternehmen mit vielen Arbeitsplätzen haben noch immer mit den Folgen zu kämpfen; bei einigen ist die Nachfrage auch Monate nach dem Ende der Vollsperrung noch immer nicht zurück auf dem alten Niveau. Offensichtlich sind besonders den Güterbahnunternehmen durch das Desaster langfristig Kunden verloren gegangen. Der Gesamtschaden geht in die Milliarden. Nicht zu reden von dem enormen Prestigeverlust für die Schiene.
Der Chef von DB Netz, Ronald Pofalla, war derweil über Wochen im selbst gebuddelten medialen Tunnel abgetaucht – schließlich möchte er bald selbst Bahnchef werden. Da wäre es sehr hinderlich, mit dem folgenschwersten Unglück beim Bahnbau der letzten Jahrzehnte in Verbindung gebracht zu werden. Also gab er lieber keine Interviews und machte sich rar, statt der Öffentlichkeit Rede und Antwort zu stehen, wie es seine Aufgabe als zuständiger Vorstand gewesen wäre.
Zwei Lehren lassen sich aus „Rastatt“ ziehen:
Erstens, dass das System Bahn besser für Unglücke und Sperrungen vorbereitet werden muss und sowohl die Bundespolitik als auch das Management der DB AG bislang viel zu wenig tun, um stattdessen für eine höhere Zuverlässigkeit zu sorgen. So gab es auf der wichtigen potentiellen Ausweichroute Gäubahn zur gleichen Zeit auch eine Sperrung und Bauarbeiten, so dass sie nicht als Umfahrung zur Verfügung stand. Andere mögliche Ausweichrouten sind bis heute nicht elektrifiziert und konnten daher nur mit erheblichem Mehraufwand und in geringem Umfang als Umfahrungsstrecken eingesetzt werden. Ein Ausbau des Schienennetzes mit dem Ziel einer höheren Zuverlässigkeit auch im Falle von Problemen und besonders mit Ausweichmöglichkeiten für wichtige Strecken ist daher überfällig. Nur so kann die Bahn auch bei Problemen weiter funktionieren anstatt Kundinnen und Kunden zu verschrecken.
Zweitens ist der Tunneleinbruch bei Rastatt ein Menetekel für das andere baden-württembergische Bahn-Großprojekt „Stuttgart 21“: Im Badischen gab es das Desaster bei Tunnelbauarbeiten, die fünf Meter unter den Gleisen und im nicht bewohnten Gebiet stattfanden. In Stuttgart sollen Tunnelbauten mit einer gesamten Länge von 60 Kilometern in dicht bewohntem Gebiet realisiert werden. Teilweise beträgt die Distanz zwischen der Tunneldecke und Kellerboden von Gebäuden dabei nur zwei Meter. Die Beteuerungen der Bahn, man habe das technisch alles im Griff, wirken in Anbetracht des Tunneleinbruchs in Rastatt wenig glaubwürdig.
Die Bodenbeschaffenheit in Rastatt war dabei im Prinzip berechenbar. In Stuttgart verlaufen hingegen 16,7 Kilometer der Tunnel für „Stuttgart 21“ durch den Gipskeuper (Anhydrit), das immer wieder für erhebliche Probleme für Tunnel bis hin zur Vollsperrung verantwortlich ist, wenn es mit Wasser in Verbindung kommt und dann aufquillt. Ein solcher Kontakt mit Wasser lässt sich im Bau und auch später im Betrieb jedoch kaum völlig zuverlässig ausschließen. Viele Tunnel durch Gipskeuper müssen daher im Abstand weniger Jahre immer wieder aufwändig und teuer saniert werden, manche müssen sogar dauerhaft gesperrt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich in einem Straßentunnel leichte Hebungen tolerieren lassen, während bei einem Bahntunnel schon Hebungen von wenigen Zentimetern eine Vollsperrung zur Folge haben. Die Folge davon könnte sein, dass wichtige Zulaufstrecken zum neuen Stuttgarter Tiefbahnhof dauerhaft gesperrt werden müssten – mit katastrophalen Auswirkungen auf das gesamte Bahnnetz.
Es grünt so grün. Oder: Was nicht fährt, kommt nicht zu spät
Im Vorfeld der Leipziger Buchmesse 2018 kündigte die Deutsche Bahn AG an: „Bequem reisen und sicher ankommen. Mit den Zügen der Deutschen Bahn reisen Sie umweltfreundlich und entspannt in die Messestadt.“ Es wurden auch zusätzliche Verbindungen angeboten und unter anderem ein „Sonderzug für Bücherwürmer“ eingesetzt.
Es kam dann für viele Tausend Messebesucher anders. Am Wochenende, dem 17. und 18. März, zugleich die Besucher-stärksten Messetage, kam es zu einem Wintereinbruch. Dieser war zwar von den Meteorologen durchaus einige Tage im Allgemeinen und mindestens ein Tag vorher im Besonderen und einigermaßen konkret angekündigt worden. Dennoch erklärte die DB, sie sei „überrascht“ worden. Weswegen es zu „witterungsbedingten Ausfällen“ gekommen sei.
Was stark untertrieben ist. Tatsache ist, dass der Zugverkehr zu einem großen Teil in Leipzig und Region für einen Tag eingestellt wurde. Auch am Sonntag, dem 18. März, gab es viele Ausfälle von Zügen und erhebliche Verspätungen bei den meisten Verbindungen; beispielsweise verkehrten an diesem Sonntag keine Fernverkehrszüge zwischen Leipzig und Hannover. Wie hilflos dabei die Bahn reagierte, demonstriert das folgende Zitat aus der „Leipziger Volkszeitung“: „Der Bereitschaftsdienst der Bahn war am Sonntag beim Warten der Gleise und Weichen auf Probleme gestoßen. ´Stellen, die gerade geräumt wurden, sind nach einer halben Stunde schon wieder vom Schnee bedeckt und blockiert´, so ein Bahnsprecher. Im Prinzip müssten die Helfer an den Problemstellen stehen bleiben. Das geht aber nicht, weil dafür die Kräfte nicht reichen.“1 Richtig ist die Aussage: Wenn es schneit, dann schneit es.
Doch Leipzig zur 1918er Buchmesse-Zeit war keine Ausnahme. In jüngerer Zeit – so besonders ausgeprägt im zweiten Halbjahr 2017 und im Januar 2018 – kam es zum Ausfall des Zugverkehrs auf vielen Strecken, in ganzen Regionen und teilweise – im Fall des Fernverkehrs der Bahn – sogar deutschlandweit. Die Stürme „Xaxier“ (vom 4. bis 6. Oktober 2017), „Herwart“ (am 29. Oktober) und „Friederike“ (am 18. Januar 2018) waren der Anlass für die „Angebotseinschränkungen“. Im Fall des Sturms „Friederike“ wurde der gesamte Fernverkehr der Deutschen Bahn eingestellt. Der Personenverkehrsvorstand Berthold Huber rechtfertigte diese von ihm und der Chefin der Fernverkehrstochter, Birgit Bohle, getroffene Entscheidung mit den Worten: „Die Entscheidung, die Sicherheit unserer Fahrgäste und Mitarbeiter über alles zu stellen, war richtig.“2
Das kann man auch anders sehen. Das Manager Magazin: „Eigentlich seltsam. Nicht überall blies der Wind übermäßig. Güterzüge rollten. Die Autobahnen waren offen. Und auch der Flugverkehr ging mit Einschränkungen weiter. ‚Die Entscheidung, den gesamten Fernverkehr einzustellen, halte ich gelinde gesagt für Feigheit‘, wettert Claus Weselsky […] einer der wenigen Oppositionellen im Haus. Er verkennt die Zusammenhänge. Was nicht fährt, kommt auch nicht zu spät. Insofern erreicht die Bahn im Stillstand ihre höchste Leistungsstufe.“3
Die Deutsche Bahn AG verweist in diesem Zusammenhang meist auf die „Klimaveränderung“ und auf „Extremwetterlagen“. So formulierte sie: „Zunehmende Schäden an Infrastruktur durch Häufung von Extremwetterereignissen als Folge des Klimawandels führen unter anderem zu Erlöseinbußen durch eingeschränkte Angebote infolge witterungsbedingter Störfälle und zu einem erhöhten Mittelbedarf für präventive Maßnahmen.“ Der Konzern arbeite „gemeinsam mit nationalen und internationalen Experten an der Anpassung externer technischer Regelwerke an veränderte klimatische Bedingungen.“ Man begegne diesen potentiellen Störungen „mit systematischer Wartung und durch Einsatz qualifizierter Mitarbeiter sowie mit kontinuierlicher Qualitätssicherung und Verbesserung unserer Prozesse.“4
Das klingt gut. Ist aber nicht glaubwürdig. Schließlich erschien die zitierte Aussage bereits vor drei Jahren im Geschäftsbericht der Deutschen Bahn AG. Es gibt sogar seit 2007 den Beschluss der Bahn, ihr „Präventionsprogramm“ zu verstärken und das „Vegetationsmanagement“ zu optimieren. Und immer wieder neu schillernde Aussagen darüber, dass der „Aktionsplan Vegetation ganzheitlich und strategisch auf einen stabileren Waldbestand entlang der Gleise ausgerichtet“ sei, dass es für „neuralgische Punkte“ ein „Hot-Spot-Programm“ geben würde, dass dafür „ein neues Expertenteam ins Leben gerufen“ worden sei und dass man sogar „mit Hilfe von Helikopter-Einsätzen und Spezialfirmen“ vorgehe.5
Allein das Versprechen der Deutschen Bahn AG „Die Bahn wird sturmsicher“ ist zweifelhaft. Sturmscher war die Bahn in Zeiten, als sie mit einem Foto, das einen durch eine Winterlandschaft fahrenden TEE-Fernverkehrszug zeigt und der Schlagzeile „Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“ für die Schiene warb. Und als sie diese Aussage auch glaubhaft – in der Praxis, Winter für Winter – als zutreffend unter Beweis stellte.
Den Verweis auf „extreme Wetterlagen“ hält beispielsweise Peter Westenberger, Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen, für wenig überzeugend: „Schneefall, der in Ländern mit leistungsfähigen Bahnsystemen wie der Schweiz, Russland oder Schweden nur ein müdes Blinzeln auslöst, wird bei der DB Netz zum Anlass genommen, Hauptschlagadern und Nebenstrecken des Schienennetzes zwei Tage und länger zu sperren. Es muss ein Ende haben, dass die ganz offenbar unzureichenden Ressourcen der DB Netz Schäden in Millionenhöhe bei den Verkehrsunternehmen und ihren Kunden verursachen.“
Westenberger spekuliert, dass die für das Top-Management geltenden Incentives zur Steigerung der Pünktlichkeit Teil des Problems sein könnten: „Denn gesperrtes Netz bedeutet in der DB-Logik: null Verspätungsminuten.“6
Die verpatzte Inbetriebnahme der Neubaustrecke durch den Thüringer Wald
Großes Hallo am 10. Dezember 2017: Nach insgesamt 26 Jahren Bauzeit geht das „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8“ (VDE 8) in Betrieb – und verkürzt die Fahrzeit zwischen Berlin und München auf spektakuläre 4 Stunden statt der bisherigen gut 6 Stunden. Diese Fahrzeit gilt zwar nur für die 3 ICE-Sprinter pro Tag und Richtung, aber auch die sonstige etwa eine halbe Stunde längere Fahrzeit mit Zwischenhalten kann sich in Anbetracht der Entfernung von 600 Kilometern sehen lassen. Damit dürfte es ähnlich wie bei der Neubaustrecke Köln/Bonn – Frankfurt gelingen, einen großen Teil des Flugverkehrs auf die Bahn zu verlagern, was wir von Bahn für Alle sehr begrüßen.
Die Ernüchterung folgte leider schon am gleichen Tag: Der erste Zug voll mit Journalistinnen und Journalisten blieb auf der Strecke plötzlich stehen und konnte über Stunden nicht weiterfahren. Das gleiche wiederholt sich in den folgenden Tagen und Wochen bei etwa jedem zweiten Zug. Viele Fahrgäste erreichen ihr Fahrtziel nur mit vielen Stunden Verspätung und Ersatzzügen, manche Züge müssen über die Bestandsstrecken umgeleitet werden. Eine Welle von Spott ergießt sich – wieder einmal – über die DB AG.
Hintergrund der Probleme ist das auf der Strecke verbaute neue Zugsicherungssystem ETCS (European Train Control System)7, das bisher erst auf wenigen Strecken in Deutschland verbaut ist und ohne die klassischen Signale auskommt. Es hatte zwar schon zwei Jahre problemlos auf der Verlängerung der Strecke zwischen Erfurt und Halle/Leipzig problemlos funktioniert – dort jedoch bis dahin nur bei geringeren Geschwindigkeiten (bis 230 km/h statt jetzt 300 km/h). Für die Inbetriebnahme der Verbindung zwischen Berlin und München mussten nun noch sehr viel mehr Züge mit dem ETCS-System ausgerüstet werden. Die neu verbauten Module waren dabei wohl nicht gut auf den Zug abgestimmt und haben insbesondere höhere Geschwindigkeiten detektiert als tatsächlich vom Zug gefahren. Dadurch kam es dann wohl – aus Sicherheitsgründen eigentlich sinnvoll – zu den Zwangsbremsungen.
Dabei sind der DB AG tatsächlich zwei Dinge vorzuwerfen:
Erstens sind die Ingenieure ein großes Risiko eingegangen, indem sie dieses System ohne eine gleichzeitige Rückfallebene – beispielsweise das klassische Zugsicherungssystem LZB8 – verbaut haben. Wäre ein solches Alternativsystem vorhanden gewesen, hätten die Züge mit diesem problemlos weiter fahren können. Die ausschließliche Verwendung von ETCS hat nicht nur den Nachteil der fehlenden Rückfallebene im Falle von technischen Pannen, sondern sie schließt auch alle nicht mit ETCS ausgestatteten Lokomotiven und Triebzüge – und das ist momentan noch die Mehrheit – von der Benutzung der Strecke aus. Daher wird die Neubaustrecke auch überhaupt nicht von Güterzügen befahren, obwohl bei der Nutzen-Kosten-Berechnung der Strecke eine Vielzahl von Güterzügen einberechnet worden war, um die teuren Investitionen zu rechtfertigen. Tatsächlich sind aber gerade einmal 18 ICEs pro Tag und Richtung – einmal pro Stunde – dort unterwegs. Das Spiel mit den einberechneten und nie fahrenden Güterzügen ist übrigens eine ständige Wiederholung: Immer wieder werden die Milliarden-Investitionen für Neubaustrecken auch mit Güterzügen begründet, die dann tatsächlich aber nie auf der Strecke fahren; aktuell beispielsweise auf der noch im Bau befindlichen Strecke Wendlingen – Ulm.
Der zweite Vorwurf an die DB AG sind die fehlenden Prüfungen vor der Inbetriebnahme. Offensichtlich wurden die ICEs für die Inbetriebnahme der Neubaustrecke – vor allem ICE3-Züge – auf die Schnelle mit den ETCS-Modulen ausgestattet, ohne das Zusammenspiel vorher auch ausreichend noch ohne Fahrgäste auf der Strecke zu testen. Der Hintergrund dafür sind wiederum die jahrelangen Sparmaßnahmen der DB AG: Es gibt nämlich so gut wie keine Ersatzzüge, die im Falle von technischen Defekten eingesetzt werden könnten – oder die eben bei einer solchen System-Umrüstung die gerade im Test befindlichen Züge ersetzen könnten. Stattdessen gibt es einen enormen – und im schlimmsten Fall sogar sicherheitsrelevanten – Druck, dass möglichst alle ICEs ständig einsatzbereit sein müssen.
Immerhin funktioniert die Strecke inzwischen wohl leidlich – zumindest nicht schlechter als andere. Was dennoch bleibt ist allerdings der schale Nachgeschmack, dass so viel Geld in eine Strecke investiert worden ist, die man auch sehr viel günstiger mit gleichzeitig sogar noch größerem Nutzen hätte realisieren können. Sehr viel günstiger und gleichzeitig verkehrlich sinnvoller wäre eine weiter östliche Streckenführung gewesen, mit der man nicht nur den vom Bahn-Fernverkehr bislang weitgehend abgeschnittenen Verdichtungsraum Gera/Zwickau/Chemnitz mit hätte einbinden können, sondern außerdem den Thüringer Wald weitgehend umfahren hätte. Diese Streckenführung hätte rund zwei Drittel der Kosten einsparen können, auch weil ein größerer Anteil als Ausbau von bestehenden Strecken hätte realisiert werden können – und das bei nur geringfügig längeren Fahrzeiten.9 Schon seit den frühen 1990er Jahren haben mehrere Bürgerinitiativen unter dem Dach „Das bessere Bahnkonzept“ gegen die nun realisierte Streckenführung protestiert und Alternativen vorgeschlagen. Letztlich konnte sich aber Bernhard Vogel, der damalige thüringische Ministerpräsident und gute Helmut-Kohl-Freund, mit seiner Wunsch-Streckenführung über Erfurt durchsetzen. Die bittere Ironie der Geschichte ist, dass damit zwar die thüringische Landeshauptstadt hervorragend in das Fernverkehrsnetz eingebunden ist, dass gleichzeitig aber der Rest Thüringens – unter anderem Jena, Weimar und Naumburg – fast komplett von diesem abgekoppelt wurden, Thüringen also insgesamt also der große Verlierer der Strecke ist.
Absurd ist auch, dass die Neubaustrecke auf eine Geschwindigkeit von 300 km/h ausgelegt wurde, was die Kosten durch die vielen Ingenieurbauwerken (Brücken und Tunnels) enorm in die Höhe getrieben hat, da extrem große Kurvenradien notwendig sind. Solche Geschwindigkeiten werden in Deutschland bislang nur auf der Neubaustrecke Köln/Bonn – Frankfurt gefahren und sind eigentlich generell fragwürdig: Die Zeitersparnis gegenüber den bis in die 1980er Jahren meist gebauten 250 km/h Maximalgeschwindigkeit liegt im geringen Minutenbereich, aber bekanntlich steigt der Energieverbrauch im Quadrat mit der Geschwindigkeit. Inzwischen sieht daher auch die DB AG selbst eine Geschwindigkeit von 250 km/h als die Grenze des wirtschaftlich Sinnvollen an. Dennoch wurde die Trasse im Geschwindigkeitswahn der 1990er Jahre auf 300 km/h geplant, was später nie korrigiert wurde. Das ist besonders deswegen absurd, weil die DB AG ab 2019 auch den neuen ICE 4 auf der Neubaustrecke einsetzen will, der aus Kostengründen von vorneherein auf maximal 249 km/h ausgelegt wurde.
Die Folge von alldem sind die massiv explodierten Kosten von letztlich über 10 Milliarden Euro – und die enormen Bauverzögerungen durch den zwischenzeitlichen Baustopp wegen der Unwirtschaftlichkeit der Strecke. Letztlich wirkt die Neubaustrecke durch den Thüringer Wald so schon mit ihrer Inbetriebnahme wie ein Relikt einer vergangenen Zeit, als man noch im technischen Machbarkeitswahn absurde Strecken für Höchstgeschwindigkeiten um jeden Preis geplant hat.10 Dennoch ist der Klima-Effekt durch die Verlagerung tausender Fahrgäste vom Flugzeug auf die Bahn enorm positiv – und die bisherigen Zahlen deuten auch daraufhin, dass dieser auch tatsächlich erreicht wird.
Stuttgart 21
Die eingangs unseres Alternativen Geschäftsberichts aufgeführten drei Personen aus dem Spitzenpersonal der Deutschen Bahn AG, die binnen 15 Monaten den Bahnkonzern verließen, machten, haben eine Gemeinsamkeit: Sie haben das Großprojekt Stuttgart 21 intensiv und mit persönlichem Engagement vorangetrieben. Sie taten dies über ihre gesamte Amtszeit hinweg, obgleich der damalige Bahnchef Rüdiger Grube bei Amtsantritt kundtat, dass 4,5 Milliarden Euro Kosten für Stuttgart 21 eine „Sollbruchstelle“ darstellen würden, und dass höhere Kosten das Projekt unwirtschaftlich machen würden.
Beim Abgang von Volker Kefer und von Rüdiger Grube wurde das Projekt auch nach offiziellen Angaben der Deutschen Bahn auf 6,8 Milliarden Euro taxiert. Beim Abgang von Utz-Hellmuth Felcht Ende März 2018 sind es bereits 8,2 Milliarden Euro. Damit aber ist das Großvorhaben auch nach eigenem Bekunden der Bahnverantwortlichen deutlich unwirtschaftlich. Die Projektkosten liegen heute bereits – auf Basis der bahnoffiziellen Zahlen – um 82 Prozent über dem Wert, den der damalige Bahnchef als „Sollbruchstelle“ ausgab.
Gegen die drei Genannten wurde mehrfach Strafanzeige eingereicht wegen Untreue.11 Felcht und Grube, aber auch Pofalla, damals als Kanzleramtsminister, engagierten sich massiv im Frühjahr 2013 für ein neues Ja der Aufsichtsräte beim damaligen S21-Kostensprung von 4,5 auf 6,5 Milliarden Euro. Felcht und Pofalla machten sich dann im Januar 2018 nochmals dafür stark, dass die neue Kostensteigerung von 6,5 auf 8,2 Milliarden Euro im Aufsichtsrat abgesegnet wurde.
Längst zeichnet sich ab, dass die tatsächlichen Kosten von Stuttgart21 über die psychologisch wichtige Marke von zehn Milliarden Euro klettern werden. Was, zusammen mit den krassen Verzögerungen der in Aussicht gestellten Termine zur S21-Inbetriebnahme (derzeit frühestens Ende 2025) das Thema Untreue neu auf die Tagesordnung setzen wird.
Unter diesen Bedingungen macht es Sinn, wenn die bisherigen Verantwortlichen an der Bahnspitze, die zugleich für diese enorme Veruntreuung von Steuergelder mit verantwortlich sind, sich rechtzeitig aus der Schusslinie nehmen.12
Und es war Utz-Hellmuth Felcht, der Ende 2017 in einem ausführlichen Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das sich vor allem um die Frage drehte, warum auch er den Konzern verlässt, drei Mal „Stuttgart 21“ erwähnte. Und der in diesem Gespräch sybillinisch feststellte: „Sobald man [als Aufsichtsrat; d. Red.] zu eng bei der Politik ist, sich gar vereinnahmen lässt, kann man aktienrechtlich nicht mehr korrekt arbeiten.“13
Wir fügen hinzu: … kann man strafrechtlich belangt werden.
Prüfstein Justiz
Die Chance auf einen Zugriff der Justiz gegen das Spitzenpersonal des Bahnkonzerns wegen schädigender Untreue wächst, weil die Juristen Eisenhart von Loeper und Dieter Reicherter vier Angriffsflächen zur Anzeige gebracht haben, die je eigenständig zur strafrechtlichen Verfolgung taugen und damit das Projekt ins Wanken bringen können:
Als Erstes leisten sich Bund und Bahn die unhaltbare These, bei einem Projektabbruch würden Kosten von „mindestens 7,020 Mrd. Euro anfallen“.14 Man stützt sich auf Angaben der Bahn und auf das geheim gehaltene PwC-Gutachten, das dem Täuschungsmanöver ein amtliches Siegel verleihen soll. Allerdings zeigt der dem vorangehende Satz, dass hier Stuttgart 21 und die Neubaustrecke „sich gegenseitig bedingen“ und „wirtschaftlich gesamthaft betrachtet“ werden: Ein grob irreführendes Manöver, denn die NBS unterliegt dem Bundesverkehrswegeplan, wogegen S 21 ein „eigenwirtschaftliches“ – höchst unwirtschaftliches Projekt ist, zudem erklärte das Bundesverkehrsministerium bereits im Dossier vom Februar 2013, Seite 8:
„Der Bund hat immer betont, dass diese Vorhaben nicht zwingend zusammengehören. Die Schnellfahrstrecke nach Ulm könnte auch alternativ in den Knoten Stuttgart eingebunden werden. Bereits bei einer Überprüfung der Wirtschaftlichkeitsrechnung für Stuttgart 21 im Jahr 2007 hat der Gutachter des Bundes die Erstellung eines alternativen Planfalls unter den Prämissen der Beibehaltung des Kopfbahnhofs und dem Bau der NBS Wendlingen-Ulm als betriebswirtschaftlich sinnvoll erachtet.“
Weil man in der zitierten Antwort der Bundesregierung die Brüchigkeit der eigenen Argumentation kennt, wird sodann eine „Einzelbetrachtung“ nachgeliefert, die 4,8 Milliarden Euro Abbruchkosten behauptet, ohne sie zu spezifizieren. Diese Summe kann nur aus vollen Rückbaukosten der bisherigen Investitionen von etwa 3,2 Mrd. Euro hochgerechnet werden, obwohl das die Perversion auf die Spitze treibt, weil jegliche Alternativlösung zu S 21 immer von sinnvoller Umnutzung der schon erbrachten Investitionen ausgeht. Die Absicht ist klar: Da wird eine zum Popanz aufgebauschte Berechnung präsentiert, um die Ausstiegsdebatte – wie 2013 – im Keim zu ersticken. Das ist kriminell, denn – wie der Verkehrsgutachter Dr. Martin Vieregg ermittelte – betragen die Investitions- plus Umstiegskosten 4,8 Milliarden Euro, so ist der Ausstieg wenigstens drei Mrd. Euro günstiger – folgt man der letzten Kostenanhebung der DB von 7,7 bis 8,2 Milliarden Euro. Die Bahn-Vorstände Lutz und Pofalla haben hiernach – in juristischer Hinsicht – „gezielt im kollusiven Zusammenspiel mit dem Aufsichtsrat dem Bahnkonzern pflichtwidrig schwer geschadet“.
Drei weitere strafrechtlich als Untreue angezeigte Sachverhalte können die Tatverdächtigen treffen: Die achtgleisige Ausgestaltung des Tiefbahnhofs ohne Ausweichmöglichkeiten bringt einen schädlichen Verkehrsengpass mit sich, den die Anwälte der DB AG bei der Staatsanwaltschaft Berlin nicht einmal in Zweifel stellten. Das sechsfach regelwidrige Gleis- und Bahnsteiggefälle gefährdet Leib und Leben der Bahnreisenden durch Wegrollvorgänge, wie die Statistik der Bahn im Kölner Bahnhof bei zwei- bis vierfach geringerem Gefälle nachweist. Und der Tunnelbau im quellfähigen Anhydrit erzeugt jetzt schon gravierende Bauverzögerungen und lässt im Falle der Fertigstellung des Projekts wiederkehrende Sanierungsbedarfe und Streckenstilllegungen erwarten.
An dieser Faktenlage kommt die Justiz auf Dauer gesehen nicht vorbei. Es kann noch spannend werden.
Bahnchef lässt Staatsbahn gegen Bundesland und Landeshauptstadt Stuttgart
Hier kommt ein weiteres Mal Rüdiger Grube ins Spiel. Nur wenige Wochen vor seinem Abgang, Mitte Dezember 2016, hinterließ Rüdiger Grube der Stadt Stuttgart und dem Land Baden-Württemberg ein vergiftetes Abschiedsgeschenk: Die Deutsche Bahn AG klagt seither auf Übernahme aller Mehrkosten beim Projekt Stuttgart 21 durch die „Projektpartner“. Diese „Projektpartner“ sind das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart und die Region Stuttgart. Damit könnten, so ein Bericht von Rüdiger Soldt bei faz.net vom 29. November, „auf das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart und die Region Mehrkosten von mindestens zwei Milliarden Euro (zukommen).“
Wir verdeutlichen nochmals die Gemengelage: Da klagt der Staatskonzern Deutsche Bahn AG, vertreten von dem Noch-Bahnchef Rüdiger Grube (der bereits innerlich „nicht mehr für die Bahn brennt“) gegen die staatlichen Gliederungen Land Baden-Württemberg und Landeshauptstadt Stuttgart auf die Übernahme von Stuttgart21-Kosten, die sich auf einer nach oben offenen Skala bewegen. Mit dieser Art Verschiebebahnhof von Milliarden-Euro-Kosten wird zugleich gegenüber der Öffentlichkeit eine Nebelbank ausgebreitet, bei der man nicht mehr erkennen soll, wer für das Desaster beim Großprojekt Stuttgart 21 verantwortlich ist.
Und es kommt noch ein Sahnehäubchen: Die 200 Seiten starke Klageschrift der DB AG gegen Stadt und Land wurde verfasst von der international agierenden Kanzlei Wilmer Hale. Diese wirbt für sich mit dem Slogan: „Tausend Rechtsanwälte an zwölf Standorten in fünf Ländern“. In Deutschland agiert der bis Februar 2018 amtierende Präsident des Autolobbyverbands VDA, Matthias Wissmann, als „Senior International Counsel“ und als deutscher Vertreter von WilmerHale. Matthias Wissmann war es, der im April 1994 als Bundesverkehrsminister erstmals das Projekt Stuttgart 21vorgestellt hatte. Auf der Wilmer Hale-Website wird Wissmann beschrieben als ein Mann, der sich auf „die Deregulierung von Märkten und Industrien“ konzentriere.
Ergänzend sei vermerkt: Die Klageschrift der Bahn gegen die Stadt Stuttgart und gegen das Land Baden-Württemberg wird vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Und die offensichtlich bereits ausgearbeitete juristische Antwort der Stadt Stuttgart auf diese Klage wird „aus prozesstaktischen Gründen“, so Fritz Kuhn, Oberbürgermeister der Stadt und führender Vertreter der Partei Die Grünen, auch dem Gemeinderat der Stadt vorenthalten.
Da wedelt der Schwanz mit dem Hund. Und dies heftig.15
Im Übrigen ist für die Deutsche Bahn AG ihr größtes Bauvorhaben – und das war und ist Stuttgart 21 – kein Thema für eine angemessene Berichterstattung. Auf der 2017er Bilanzpressekonferenz wurde Stuttgart 21 im Bericht des frisch gekürten Bahnchefs Richard Lutz erst gar nicht erwähnt. Allerdings gab es dort als Reaktion auf eine von Lutz nicht erwartete Journalistenfrage zu Stuttgart 21 eine erstaunliche Freud´sche Fehlleistung: Des Bahn-Chefs Antwort lautete, er sei „finster entschlossen“ Stuttgart 21 zu Ende zu bauen.16
Längst wird das Großprojekt nicht mehr mit technischen Vorteilen begründet. Diese gibt es ja auch nicht. Das Motiv für das Weiterbauen ist eine „finstere Entschlossenheit“. In der Wirtschaftspresse hingegen wird Klartext geschrieben. Stuttgart 21 sei „ein Meilenstein im Niedergang der DB als rationales Unternehmen.“ So Jüngst Michael Machatschke im Manager-Magazin. Er zitiert dabei Grube, der Stuttgart 21 noch als „Leuchtturmprojekt“ bezeichnet hatte, um zu bilanzieren: „Der Strahl dieses Leuchtturms brennt heute der ganzen Republik in den Augen. […] Dennoch hat kein DB-Verantwortlicher den Mut, Nein zu sagen […] um unsinnige Prestigeprojekte abzumoderieren, fehlt der Bahn die Souveränität des Erfolgreichen.“17
Das Tarifsystem der Bahn: Neustart dringend notwendig
An regelmäßige Preiserhöhungen ist die Kundschaft der Bahn gewöhnt, auch wenn es in den letzten Jahren mehrmals „Nullrunden“ gab, die wohl vor allem der neuen Billig-Konkurrenz durch die Fernbusse geschuldet waren. Mit dem letzten Fahrpreiswechsel im Dezember 2017 habe die DB Ihre Preise nur „ausgesprochen moderat“ erhöht – behauptet sie zumindest Fernverkehrschefin Birgit Bohle. Von 0,9 Prozent ist die Rede. Diese Zahl gilt aber für eine Mischrechnung, die nicht nachvollziehbar ist. Die immer verfügbaren Normalpreise (seit neuestem „Flexpreis“ genannt) werden im Fernverkehr um 1,9 Prozent erhöht, im Nahverkehr sogar um 2,3 Prozent. Und auf einigen Strecken sind die Erhöhungen noch deutlich stärker. Insbesondere die Eröffnung der Neubaustrecke zwischen Nürnberg und Erfurt schlägt dieses Mal massiv zu Buche: Dort sind die Tickets um immerhin 13,6 Prozent teurer geworden. Begründet wird dies mit der kürzeren Fahrzeit durch die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke. Diese hat jedoch nicht die DB finanziert, sondern der Bund. Trotzdem will die DB nun ihre Kasse mit dem zu erwartenden Kundenansturm füllen.
Wir erfassen die Preisentwicklung der Bahn schon seit Jahren kontinuierlich, und diese Analyse zeigt: Sie hat ihre Preise um durchschnittlich 3,5 Prozent im Jahr erhöht und damit konstant ziemlich genau doppelt so stark wie die allgemeine Inflation (siehe Grafik unten). Die Fernverkehrspreise sind seit 200318 um insgesamt 44,6 Prozent angestiegen, im Nahverkehr (DB-Tarif) sind sie sogar um 50,2 Prozent teurer geworden. Und viele Zusatzleistungen sind noch deutlich stärker im Preis gestiegen: So ist die BahnCard 50 als Mobilitätskarte für Vielfahrer seitdem um 85 Prozent teurer geworden, und Reservierungen haben sich im Preis mehr als verdoppelt.
Neben dem reinen Preisniveau ist aber vor allem das Tarifsystem grundsätzlich zu kritisieren: Das Zustandekommen der Preise ist absolut intransparent zwischen den Extremen eines inzwischen enorm teuren Normal-/„Flex“preises und Sparpreisen, die für die gleiche Reise kaum mehr ein Zehntel dieses Preises betragen. Es kann passieren, dass zwei Fahrgäste im Zug nebeneinander sitzen, von denen einer 19 Euro für sein Ticket gezahlt hat und der andere für die gleiche Strecke 145 Euro. Eine grundlegende Neukonzeptionierung der Bahn-Tarife ist deswegen eigentlich seit Jahren überfällig. Mit den in den letzten beiden Jahr eingeführten Veränderungen geht die DB AG allerdings leider in eine ganz andere Richtung: Sie macht das ohnehin schon sehr komplexe System nochmals komplizierter und kundenfeindlicher.
Schon mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2016 wurde der bereits als „Flexpreis“ umbenannte Normalpreis nämlich schlichtweg abgeschafft. Sein angeblicher Nachfolger, der „differenzierte Flexpreis“ ist das Gegenteil von dem, was sein Name suggeriert. Er verliert nämlich sämtliche Flexibilität, die der Normalpreis einmal hatte. Während Tickets bis Dezember 2012 noch 4 Tage gültig waren, waren es bis Dezember 2016 immerhin noch 2 Tage. Seitdem muss die Reise immer zwingend am ersten Gültigkeitstag angetreten werden. Wer eine Hin- und Rückfahrt zusammen bucht, konnte die Rückfahrt bis Dezember 2016 flexibel innerhalb eines Monats antreten. Seitdem gibt es diese Rückfahrtregelung jedoch nicht mehr, so dass man sich auch mit dem „Flexpreis“ jeweils ganz genau auf einen Hin- und Rückfahrtstag festlegen muss.
Der Grund für diese Verschlechterungen ist die neue „Differenzierung“ des sogenannten „Flexpreises“. Anders als der frühere Normalpreis ist er nämlich mitnichten immer gleich, sondern er variiert je nach Reisetag. Die viel nachgefragten Reisetage – Freitag, Sonntag, Montag und rund um Feiertage – werden im Vergleich zu den anderen Tagen teurer, und die Spanne zwischen beiden wurde auch 2017 weiter gesteigert. Damit wird der „Flexpreis“ den sehr viel günstigeren Sparpreisen, bei denen das Zustandekommen bestimmter Preise überhaupt nicht nachvollziehbar ist, immer ähnlicher.
Ebenfalls kundenfeindlich war die nochmalige Erhöhung der Stornierungsgebühr von Tickets – von ohnehin schon teuren 17,50 Euro auf 19 Euro. Bei manchen Sparpreisen (mit BahnCard) führt das dazu, dass es bei Nicht-Nutzung günstiger ist, das Ticket einfach verfallen zu lassen anstatt es zu stornieren – weil man sonst noch draufzahlen würde.
Aber die DB wäre nicht die DB, wenn sie nicht gleichzeitig auch noch die komplett umgekehrte Strategie verfolgen würde: Immer wieder werden nämlich Sondertickets über Discounter oder als Beigabe zu irgendwelchen Produkten verkauft. Gerade in diesen Tagen stürmen wieder Menschen die Züge, weil die „Lidl-Tickets“ vor Ostern ihre Gültigkeit verlieren. Dass sich auf diese Weise Bahnkunden, die gerne flexibel reisen möchten, auf Dauer gewinnen lassen, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Stattdessen verärgert die DB mit solchen Aktionen ihre Kundschaft.
Bei dieser Preispolitik – ob es die immer wieder wechselnden Sparpreise sind oder solche Lockangebote – vergisst die DB AG immer wieder eines: Schnäppchenkunden sind keine Dauerkunden. Wer einmal günstig gereist ist, wird nicht automatisch beim nächsten Mal teuer reisen. Umgekehrt sind nicht einmal mehr viele der existierenden Dauerkunden bereit, die teureren Preise zu bezahlen. Man wird als Bahnfahrer durch die Preispolitik der DB AG immer mehr dazu erzogen, sich ständig nach neuen Schnäppchen umzusehen. Das führt dazu, dass solche Preise, die für Bahnfahrten früher ganz normal waren, inzwischen teuer erscheinen, wenn man für die gleiche Reise ein paar Wochen vorher nur einen Bruchteil gezahlt hat. So verdirbt sich die DB AG ihre eigenen Preise. Sie ist zwar stolz darauf, auch 2017 wieder neue Kundinnen und Kunden für den Fernverkehr gewonnen zu haben – aber gleichzeitig sind die Erträge gesunken, weil viele eben nur mit den günstigen Lockangeboten unterwegs waren.
Die DB AG verweist als Rechtfertigung für ihr Preissystem auf die Konkurrenz zu den Fernbussen und teilweise auch zum Luftverkehr, die ebenfalls differenzierte Preise haben – wenn auch nicht mit solch extremen Unterschieden wie bei der Bahn. Das ist jedoch eine sehr einseitige Betrachtung. Tatsächlich treffen die meisten Menschen ihre Entscheidung für eine Reise nämlich nicht zwischen Bahn und Fernbus oder zwischen Bahn und Flugzeug, sondern zwischen Bahn und Auto. Und das Auto hat den unschlagbaren Vorteil, dass es zu jeder Tages- und Nachtzeit und unabhängig vom Reisetag die gleichen Kosten verursacht. Zudem können Autofahrende immer genau dann fahren, wenn sie möchten. Sie sind nicht an irgendwelche Zeiten gebunden – zumindest wenn sie bereit sind, schlimmstenfalls „zäh fließenden Verkehr“ in Kauf zu nehmen. Diese extreme Flexibilität wird die Bahn so nie bieten können, aber sie steht im Vergleich dennoch eigentlich nicht schlecht da: Auf den meisten Strecken sind die Fernzüge im Ein- oder Zwei-Stunden-Takt unterwegs, manchmal sogar noch häufiger. Die Idee der Einführung dieses Taktfahrplans war es, den Fahrgästen eine ähnliche Flexibilität wie mit dem Auto zu ermöglichen. Genau diesen Vorteil macht sich die DB AG mit ihrem Preissystem aber wieder zunichte: Wenn man mit den Sparpreisen, die ja inzwischen rein mengenmäßig die neuen „Normalpreise“ sind, eben nicht flexibel unterwegs sein kann sondern an einen bestimmten Zug gebunden ist und wenn man für die immer weiter eingeschränkte Flexibilität der „Flexpreise“ einen enorm hohen Betrag zahlen muss, dann ist das Auto vielfach im Vorteil. Und das ist für eine immer wieder beschworene Verlagerung von Verkehr von der Straße auf die Schiene exakt die falsche Strategie – wie die vollen Autobahnen eindrucksvoll belegen.
All das im Übrigen keine Einzelmeinung von Bahn für Alle, sondern es entspricht den Wünschen einer großen Mehrheit der Bevölkerung: Im letzten Bahntest des Verkehrsclub Deutschland (VCD) gaben in einer repräsentativen Umfrage fast 95 Prozent der Befragten an, dass ein Tarifsystem bei der Bahn vor allem möglichst einfach und transparent sein sollte.19 Leider ist es genau dies aber momentan nicht.
Was wäre also zu tun? Das Preissystem der DB AG muss ganz grundlegend neu gestaltet werden anstatt es mit jeder Reform noch komplizierter und intransparenter zu machen. Es sollte wieder einen Normalpreis geben, der den Namen verdient: Er sollte die flexible Nutzung der Bahn ermöglichen, und zwar mit bezahlbaren Kosten. Für Menschen mit geringem Einkommen sollte es außerdem noch soziale Preise geben, um auch ihnen Mobilität zu ermöglichen. Statt zweier paralleler Preissysteme („Flexpreise“ und „Sparpreise“ – und strenggenommen sogar als drittes System noch die „Super-Sparpreise“ zu bestimmten Zeiten und nur zwischen den Metropolen) sollte es ein nachvollziehbares Preissystem auf einem mittleren Preisniveau geben. Extrem hohe Preise schrecken die Fahrgäste ab, aber extrem billige Lockangebote führen auch nicht zum dauerhaften Gewinn von Kunden, sondern erzeugen nur viel Ärger gegen die Bahn, weil Fahrgäste für die gleiche Leistung zu extrem unterschiedlichen Preisen unterwegs sind. In der Umfrage im Auftrag des VCD wären nur 19 Prozent der Befragten nicht bereit gewesen, auf Sparpreise zu verzichten, wenn es dafür insgesamt niedrigere Normalpreise gäbe. Mehr als die Hälfte der Befragten sprach sich hingegen explizit für niedrigere Normalpreise aus, die wirklich wieder normal sein könnten.20
Also, liebe Strateginnen und Strategen im DB-Tower: Schluss mit der ewigen Flickschusterei und her mit einem Tarifsystem, das für die Verkehrswende geeignet ist. Wenn dann immer mehr Menschen auf die Bahn umsteigen, dann stimmt am Ende sogar die Kasse wieder, und das Fernverkehrsangebot könnte weiter verbessert und auf weitere Städte ausgeweitet werden.
Fußnoten:
- Leipziger Volkszeitung vom 17. März 2018.
- In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Januar 2018.
- Manager Magazin vom 12. Februar 2018.
- Geschäftsbericht 2015, S.175.
- Auszüge aus dem DB-Themendienst „´Aktionsplan Vegetation´“ entlang der Strecken startet“ vom Januar 2018.
- Pressemeldung Netzwerk Europäischer Bahnen e.V. vom 18. März 2018.
- Genaugenommen handelt es sich hier um die Variante System ETCS Level 2 ohne ortsfeste Signale (andere ETCS-Varianten haben noch ortsfeste Signale) – und zwar die deutsche Version. Entgegen der erklärten Absicht, das das europaweit einheitliche System den grenzüberschreitenden Schienenverkehr in Europa vereinfachen soll, unterscheiden sich die nationalen Varianten leider bislang noch deutlich und ermöglichen eben keinen europaweiten Einsatz von Fahrzeugen ohne jeweilige nationale Anpassungen.
- LZB steht für Linienzugbeeinflussung – das System, das auf fast allen anderen Schnellfahrstrecken in Deutschland ab Geschwindigkeiten von 160 km/h zum Einsatz kommt.
- Vieregg-Rössler GmbH: Einsparpotentiale bei Schienen-Großprojekten durch eine Modifikation der Planung. München 2006.
- Eine ausführliche Bewertung der Strecke VDE 8 ist hier zu finden: http://mobilitaetswen.de/das-letzte-verkehrsprojekt-deutsche-einheit-geht-in-betrieb-die-neubaustrecke-erfurt-nuernberg
- Siehe RA Dr. Eisenhart von Loeper, Begehen die Bahnchefs fortgesetzte Untreue?, in: Winfried Wolf, abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares scheitern und die Kultur des Widerstands, Köln 2018, S. 346ff.
- Kommt es zur Anklage wegen Untreue, wird sich strafschärfend – angedroht mit mindestens 6 Monate bis zu 10 Jahre Freiheitsstrafe – zu Lasten der Tatverdächtigen auswirken, dass sie der DB AG pflichtwidrig durch die folgenschwere Fehlentscheidung für den Weiterbau von S 21 einen Vermögensverlust großen Ausmaßes, nämlich in Milliardenhöhe zugefügt haben, der sich allenfalls noch durch den bisher verweigerten Umstieg vermindern ließe. Siehe dazu die Neuanzeige wegen „besonders schwerer Untreue“ vom 12.02.2018, Website strafvereitelung.de zu dem auf 8,2 Mrd. € aufgestockten Finanzrahmen.
- Gespräch von Kerstin Schwenn mit Utz-Hellmuth Felcht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. November 2017.
- Siehe Antwort der Bundesregierung Drs. 19/779 vom 16.02.2018 auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNID 90/DIE GRÜNEN, S. 3 f., Ziffer 6.
- Wilmer Hale ist im Übrigen gut verbandelt mit der Investment-Bank Lazard. Die Kanzlei zahlte an Lazard allein 2016 120.000 US-Dollar und 2017 190.000 US-Dollar Lobbygelder. Siehe: https://www.opensecrets.org/lobby/firmsum.php?id=D000022322&year=2016 [abgerufen am 21. 3.2018]
- Siehe u.a. W. Wolf, abgrundtief + bodenlos…, a.a.O., S. 327.
- M. Machatschke, Die Merkel-Bahn, in: Manager Magazin 3/2018 vom 16. Februar 2018.
- Mit dem Jahr 2003 hat die DB AG eine Preisreform („PEP“) durchgeführt und dabei Festpreise für einzelne Verbindungen statt Kilometerpreise eingeführt. Dadurch ist eine Vergleichbarkeit mit den Preisen vor dem Jahr 2003 nicht möglich. Für die Vergleiche hier wurden die jährlichen Pressemitteilungen der DB AG für die Normalpreise in der 2. Klasse herangezogen; die realen Preiserhöhungen könnten teilweise sogar noch höher liegen.
- VCD & Quotas GmbH: VCD Bahntest 2015/2016 – Preise und Tarife im Schienenfernverkehr aus Sicht der Fahrgäste. Berlin (VCD) 2015, Seite 14. Download unter https://www.vcd.org/themen/bahn/vcd-bahntest/vcd-bahntest-20152016/
- ebenda, S. 12