Liebe MitstreiterInnen und Mitstreiter für eine bessere Bahn,
nach der Bundestagsentscheidung Ende Mai war ja unsere eigentliche Kampagne zunächst vorüber, Geld und Kräfte waren aufgebraucht, hauptamtlich Tätige konnten nicht mehr weiter beschäftigt werden. Wir mussten uns erst von Jürgen Mumme verabschieden, dann von Stefan Diefenbach-Trommer, der zum Beispiel für alle letzten Rundbriefe verantwortlich zeichnete.
Nach vierteljähriger Pause nun aber ein neuer Rundbrief, und aus gewichtigem Anlaß: Wir sehen in den nächsten knapp vier Wochen bis zum offiziellen Start des Börsengangs der Bahn (am 27.10.) ernsthaft die Chance, dieses Projekt, das wir nun mehr als drei Jahre mit vielen Teilerfolgen bekämpft haben, doch noch zu stoppen. Dabei kommt uns ein äußerer Faktor zu Hilfe: die tiefen Erschütterungen der Finanzmärkte und der Absturz der Börsenkurse weltweit. Inzwischen fordern Vertreter aller Bundestagsparteien und viele Leute aus der Finanzwelt, den Bahnbörsengang auszusetzen. Wir rufen also alle, die bisher das Engagement gegen die Bahnprivatisierung getragen haben – und gerne auch neue Leute, die neu dazu stoßen -, zu einer weiteren gemeinsamen Kraftanstrengung auf. Nachfolgend findet ihr die wichtigsten Infos zur aktuellen Entwicklung.
Winfried Wolf und Carl Waßmuth
1. Appell „Bahnbörsengang AUSSETZEN!“
Seit zwei Wochen gibt es einen neuen Appell zum AUSSETZEN des Bahnbörsengangs. Bisher haben Bahn für Alle und die folgenden Organisationen unterzeichnet: GRÜNE Landtagsfraktion NRW, Landesverbandes der GRÜNEN NRW, PRO Bahn NRW, per pedes Berlin, Grüne Radler Berlin, Genossenschaft autofrei wohnen Berlin. Eben erfahren wir, dass ebenfalls unterschrieben hat: Winfried Hermann MdB, Verkehrspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ziel des Aufrufs ist es, jenseits der „reinen“ Gegnerschaft zur Bahnprivatisierung all diejenigen zu sammeln, die zumindest für ein Aussetzen des Bahnbörsengangs plädieren.
Nun haben sich die Turbulenzen an den Finanzmärkten seitdem noch einmal deutlich verstärkt. In wenigen Tagen starten wir daher eine Aktion, in der wir unter dem aktualisierten – die neuen Entwicklungen an den Weltbörsen berücksichtigenden – Aufruf Unterschriften sammeln, und war vor allem auch von Einzelpersonen. Dieser soll zwei Wochen vor dem geplanten Börsengang öffentlich gemacht werden – möglicherweise auch in Form einer Anzeige in einer Tageszeitung.
2. Pressekonferenz Düsseldorf: NRW-Grüne unterstützen Appell
Der oben erwähnte Appell wurde in seiner ersten Form auf einer Pressekonferenz am 19.9. in Düsseldorf von Bahn für Alle (BfA) gemeinsam mit der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in NRW vorgestellt. Auf Basis dieses Appells gelang es erstmals im Verlauf unserer dreijährigen Kampagne, dass ein relevanter Teil der Grünen (deren mit Abstand größter Landesverband bzw. deren Landtagsfraktion) den Protest gegen die Bahnprivatisierung mitträgt. Auch der Landesverband NRW von Pro Bahn hat sich dem Aufruf angeschlossen – auch dies ist ein Novum, tritt doch die Spitze von Pro Bahn in Gestalt ihres Vorsitzenden immer wieder zugunsten des Bahnbörsengangs auf. Unsere Arbeit wurde auf NRW-Ebene besonders von dem verkehrspolitischen Sprecher der Grünen Landtagsfraktion, Horst Becker, unterstützt.(http://www.news-times.de/Marktberichte/de/19594672). Drei regionale Zeitungen, ein privater Fernsehsender und der WDR Rundfunk berichteten über die Pressekonferenz, letzterer auch ausführlich in Form von Interviews.
3. Börsengeschehen
Seit rund vier Wochen erleben wir einen weltweiten Einbruch der Börsenkurse. Bereits auf dem letzten bundesweiten BfA-Unterstützungstreffen im Juni in Göttingen wurde argumentiert, dass eine solche – mögliche – Entwicklung an den Weltfinanzmärkten das Unternehmen Bahnbörsengang nochmals in Frage stellen könnte. Dass das Börsenbeben derart stark sein würde, konnte auch damals kaum jemand ahnen – der ehemalige Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan, spricht von einem „Jahrhundertereignis“. Zur allgemeinen Einschätzung der Ereignisse gibt es einen aktuellen Artikel von Winfried Wolf. Die Entwicklung an den Weltfinanzmärkten stellt in viererlei Hinsicht ein gewichtiges Argument zum Aussetzen des Bahnbörsengangs dar. Erstens weil damit die möglichen Einnahmen aus der Teilprivatisierung stark reduziert werden, zweitens weil mindestens zwei Banken, die die Bahn an die Börse bringen sollen, nämlich Morgan Stanley und UBS, durch die Finanzkrise schwer angeschlagen sind, drittens weil die Turbulenzen in besonderem Maß den russischen Markt – und damit mögliche russische Investoren und das Großprojekt einer Bahntrasse Deutschland-Russland-China – treffen und viertens schließlich, weil die sich abzeichnende weltweite wirtschaftliche Rezession vor allem das Logistikgeschäft treffen wird, also den Sektor, auf den Mehdorn mit seinen Zielsetzungen eines global players im Transport- und Logistikgeschäft abzielt.
4. Bahnpreise
Die im September für den 14.12.2008 verkündeten neuerlichen Steigerungen der Fahrpreise der DB AG sind augenblicklich kaum mehr ein Thema. Die Rücknahme des unsäglichen „Bedienzuschlags“ hat die meisten Gemüter beruhigt. Doch die weit größeren (vier Mal höheren) Belastungen kommen mit der allgemeinen Fahrpreiserhöhung von 3,4 Prozent. Bahn für Alle hat die tatsächlichen Fahrpreissteigerungen seit Ende 2003 für den Nahverkehr (rund 25 Prozent plus) und für den Fernverkehr (rund 30 Prozent plus) in einer Presseerklärung. Mehr zum Zusammenhang zwischen Fahrpreisentwicklung und Bahnbörsengang hier, dargestellt von Winfried Wolf: http://shorterlink.de/?2d9154
5. ICE-Sicherheit / Taz-Beilage
Nach der Bundestagsentscheidung war aus der eigenetlichen Kampagne gegen die Bahnprivatisierung zunächst einmal die Luft raus. Doch da kam der Bruch einer ICE-3-Radsatzwelle am 9. Juli in Köln: Wir reagierten in einer achtseitigen, von BfA bezahlten Beilage zur taz am 5.August 2008. In dieser dokumentierten wir, dass der Bruch der ICE-Achse kein Einzelfall war, dass er absehbar war; dass alle ICE-3-Achsen für die Belastungen des Hochgeschwindigkeits- und Mischverkehrs unzureichend ausgelegt sind, dass die Bahn mit Blick auf den Bahnbörsengang bei den ICE-Einheiten die Wartungsintervalle vergrößert und die Inhalte der Wartungen reduziert, dass sie also auf Kosten der Sicherheit und zugunsten der Bilanz-Schönung gespart hat. (Die Taz-Beilage konnte übrigens zu 85 Prozent durch Sondereinnahmen speziell zur Finanzierung dieser Publikation bezahlt werden – herzlichen Dank an alle Spenderinnen und Spender!)
Wesentliche Infos unserer Taz-Beilage erschienen in einem guten Dutzend Zeitungen, die darüber teilweise ausführlich berichteten. Vor allem griff das ARD-Magazin „Monitor“ das Thema auf und brachte zu diesem Thema am 14. August 2008 einen achtminütigen Beitrag (verfasst von Markus Schmidt und Georg Wellmann). Dies war wiederum erneut Anlass für weitere Artikel in Printmedien. (http://www.wdr.de/tv/monitor/presse_080814.phtml) Dennoch muss festgestellt werden: Ein großer Teil der maßgeblichen Medien, so im Printbereich „Spiegel“,“Stern“, „Focus“, „Süddeutsche Zeitung“, „FAZ“ und „Welt“ brachten keine Artikel, die der Brisanz des Themas gerecht wurden. Stattdessen erscheinen seit Mitte August in diesen Blättern viele großformatige Anzeigen der DB ML, des zu privatisierenden Teils der DB AG. Höhepunkt war eine vierseitige Sonderbeilage der DB AG, die am 26. September dem größten Teil der deutschen Tageszeitungen beilag.
6. Strafanzeige gegen Mehdorn & Co.
Ende Juli haben die folgenden vier Mitglieder von Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB), zugleich Mitglied im Bündnis Bahn für Alle, Strafanzeige gegen Hartmut Mehdorn und anderen führende Bahn-Manager erhoben: Prof. Heiner Monheim, Prof. Karl-Dieter Bodack, Andreas Kleber und Dr. Winfried Wolf . Der Vorwurf lautet auf Eingriff in die Sicherheit des Bahnverkehrs gemäß Strafgesetzbuch § 315.
Die Staatsanwaltschaft Köln (Tatortprinzip: Bruch der ICE-3-Radsatzwelle am 9.7.08 auf der Kölner Hohenzollernbrücke) und die Staatsanwaltschaft Berlin (Firmensitz DB AG) weigerten sich mehr als sechs Wochen lang, die Strafanzeige zur Kenntnis zu nehmen bzw. mit der Vergabe eines Aktenzeichen kundzutun, dass sie diesbezüglich aktiv werden. Erst nach der o.g. Pressekonferenz, auf der auch zu diesem Thema berichtet wurde, gab die Staatsanwaltschaft Köln bekannt, dass es inzwischen ein Aktenzeichen gibt. Die Staatsanwaltschaft Berlin ihrerseits verwies darauf, dass der Fall von der Kölner Staatsanwaltschaft bearbeitet werde. Das Aktenzeichen lautet: 10 U Js 181/08.
7. ICE-3-Sicherheit – möglichst kein Thema bis zum Bahnbörsengang
Der Reaktion bzw. Nicht-Reaktion der Staatsanwaltschaft(en) entspricht der Umgang mit dem Ereignis „Bruch der Radsatzwelle“ selbst: Zuächst „verschwand“ die gebrochene Radsatzwelle gut eine Woche lang; die Staatsanwaltschaft Köln war nicht in der Lage, dieses entscheidende Beweisstück zu sichern. Dann teilte die DB AG mit, die gebrochene Radsatzwelle sei inzwischen bei der DB AG in Berlin sichergestellt. Bis dahin hatte die Staatsanwaltschaft Köln mitgeteilt, sie habe ein Gutachten der TU Aachen zur Art des Achsbruches angefordert. Da nun die Radsatzwelle aber nach Berlin gewissermaßen „entführt“ wurde, teilte nun die Kölner Staatsanwaltschaft Köln mit, sie habe die Bundesanstalt für Materialprüfung in Berlin mit einem entsprechenden Gutachten beauftragt. Seitdem – ca. seit Mitte Juli – gibt es dazu keine weiteren Mitteilungen. Die relativ banale Frage, handelte es sich beim Achsbruch am 9.7. um einen „Gewaltbruch“ (= einmaliges Ereignis; Sonderfall) oder um einen „Ermüdungsbruch“ (= dann kann dies mit allen anderen ICE-3-Achsen passieren) wird nicht beantwortet. Ganz offensichtlich wird alles getan, um vor einem Bahnbörsengang dieses Thema unter den Teppich zu kehren bzw. um schlechte Nachrichten, die das Bahnprivatisierungsprojekt weiter gefährden könnten, zu vermeiden.
8. Internationale Zusammenarbeit
Bereits auf der Internationalen Sommerakademie von Attac Anfang August in Saarbrücken gelang es erstmals, das Thema Widerstand gegen die Bahnprivatisierung zu europäisieren und zu internationalisieren. Als Ergebnis eines zweitägigen Workshop wurde das Europäische Bündnis „Rail for All – European coaltion against railway privatisation“ ins Leben gerufen. Auf dem Europäischen Sozialforum in Malmö vor 10 Tagen hat sich das Bündnis weiter verbreitert. Wichtige Beiträge erhoffen wir uns vor allem den neuen schwedische Mitstreitern: Schwedens Bahnverkehr leidet unter einer radikalen Deregulierung und kann die Folgen dieser Form von Privatisierung belegen.
Interessenten für das Netzwerk können sich hier eintragen https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/rail4all oder schreiben an cfwassmuth (at) gmx.de
Eine Anekdote am Rande: In der oben erwähnten Taz-Beilage hatten wir einen Brief von Alex Gordon von der britischen Eisenbahnergewerkschaft RMT veröffentlicht, in der Alex die britischen Erfahrungen mit der Bahnprivatisierung und dem Abbau der Sicherheit im Schienenverkehr darstellte. Daraufhin bekam die taz Post von der britische Botschaft in Deutschland: So schlimm wie dort dargestellt sei das ja alles gar nicht. ;-)
In den kommenden Wochen besteht die echte Chance, daß wir massiv Sand ins Getriebe der Ausverkäufer von öffentlichem Eigentum streuen können. Und wer weiss: Mit Hilfe euerer vereinten Kräfte und Ideen könnte es vielleicht gelingen, den Zug zur Börse zwei vor zwölf noch aufzuhalten.
Wir danken der Redaktion Lunapark21 für die Bereitstellung der Artikel von Winfried Wolf.